Ein Buch und einen Meinung
Albert Ostermaiers Gedichtband Wer sehen will aus dem Insel Verlag 2008
Dieser Band aus der Inselbibliothek (Nr. 1310) besticht durch das Zusammenspiel von Poesie und Fotografie. Der 1967 in München geborene Roman- und Theaterautor sowie preisgekrönte Lyriker Albert Ostermaier (u. a. Ernst-Toller-Preis 1997, Kleist-Preis 2003, 2011 Welt-Literaturpreis) präsentiert darin vierundzwanzig Gedichte zu ebenso vielen Fotografien des italienischen Fotografen Pietro Donzelli. Der Suhrkamp-Insel Autor Ostermaier wendet sich in seinem achten Gedichtband nicht zum ersten Mal dem Austausch mit einem anderen Medium zu. In seinen früheren Gedichtbänden Autokino (2001) und Polar (2006) setzte er sich mit dem Film auseinander, dem amerikanischen Roadmovie einerseits und dem französischen Autorenkino der sechziger und siebziger Jahre andererseits.
In Wer sehen will knüpft er nun über die Fotografien Donzellis aus dem Werkkomplex »Land ohne Schatten« an den italienischen Neorealismus an. Ein Land ohne Schatten zeichnen allerdings weder die Auswahl dieser Fotografien noch die Liebesgedichte Ostermaiers nach. Im Gegenteil, gerade der Kontrast von Licht und Schatten bestimmt einige Fotografien und Gedichte, die zu »insel[n] aus schattensand« (strandschläfer) werden. Entlang von Licht und Schatten werden Erfahrungen der Fremdheit und Anpassung, des Andersseins und Gleichseins, des Erscheinens und Verbergens des Selbst geschildert, finden Entgrenzungen der Realitätswahrnehmung statt, die in das Gefühl von Einsamkeit, Verlassensein oder auch des Abschieds umschlagen. So werden die Fensterausschnitte, Zimmer, Straßenecken, Mauern und Landschaften der Fotografien zu Allegorien dieser poetischen Erfahrungen, die immer auch anders sein könnten und doch so unmittelbar vom Sichtbaren sich entfalten, dass man am Ende nicht weiß, was zuerst da war, das Gedicht oder das Foto. Dabei verfällt jedoch weder das Foto, noch das Gedicht in die Illustration, weil offene Stellen bleiben, Unbeschriebenes, Zonen des Unentschiedenen, die in den Fotografien Donzellis selbst entstehen, zum Beispiel durch Blicksituationen, in denen die Figuren sich nie untereinander und auch nie den Betrachter ansehen oder durch den Umschlag vom Detail zum Ornamentalen. So werden etwa die Menschen auf einer großen Straßenkreuzung von schräg oben betrachtet zu »Druckfehlern« in einem suchbild, indem sie ein Mosaik von Augenblicken, Gesten, Gedankenfetzen, Dingen und Bewegungen bilden.
Die Zonen des Unentschiedenen rufen die Gedichte über die Erinnerung des im Bild Abwesenden hervor, so etwa die Erinnerung an »die zärtlichkeit des grases unter seinen nackten sohlen« (via santo spirito), während der Mann auf dem Foto über Steingeröll läuft. Zwischen dem nicht vergessen können und unbedingt erinnern wollen entstehen mannigfaltige Assoziationsräume, die alle durch die gleiche Zeiterfahrung aufeinander bezogen werden können: Dauer. Die Dauer, die es braucht, um einen Brief zu lesen (brief eines nachmittags – ist es überhaupt ein Brief der zu sehen ist), die Dauer, die die Figuren an einen Türrahmen gelehnt er-warten wird aufgefüllt mit Erinnerungsströmen, Gedankenbilder und Gefühlswelten, der Figuren und der Leser. Im Zentrum der Erinnerungen steht dabei die Liebe, die vergangene, verlorene, enttäuschte und ersehnte Liebe, ihre Unverständlichkeit, der sich das lyrische Ich hingibt und ausliefert und die getragen ist von der Sehnsucht eines kinogängers zum Beispiel:
(…)
als wir auseinandergingen der film
riss und zwei enden sich suchten
für einen anfang seitdem warte ich
dass du wiederkommst und unsere
lippen die enden zueinander fügen
wenn das licht ausgeht und die
tonspur mit dem schlagen unserer
herzen beginnt
Die Liebe und die Begegnungen des lyrischen Ich zerreißen an der Kluft zwischen nah und fern, gestern und morgen, innen und außen wie »Spiegelscherben seiner Herzwände« (spiegelverkehrt). In Schwellenmomenten changieren die Texte und Bilder zwischen dem eben erst vorbei und dem gerade noch nicht. Sie prägen ein Gefühl von Zeitlosigkeit kurz vor dem Einbruch der Realität und mit ihr der Zeit. Das Geheimnis dieser Texte bleibt daher die Dauer in ihrem Spannungsverhältnis zum Augenblick: »hier vergehen die jahre an einem nachmittag« (tagträumer). Der Grundton, den die Erinnerungen anschlagen ist die Melancholie, zuweilen sogar Verbitterung: »der bittere akkord der erinnerung« (stundengläser), die »falten der erinnerung, in die sie fällt« (hören und sehen) und »wie knoten der erinnerung« (spiegelverkehrt). Die schattenhaften Erinnerungen lassen an der Magie des Lichts, dem Glanz des Glases oder den Händen der Schaufensterpuppen, die sich nach der Frau zu recken scheinen, die mit einer transparenten Büste surreal verschmilzt (notte) wie zwischen Traum und Wirklichkeit nur wenig positives, wenig verheißungsvolles, wenig zukünftiges was Donzellis Fotografien aber auch fühlen lassen. Diese Empfindungen sind wie schmerzliche Wunden an den »brandflächen des glücks« (tagträumer).
Die »ornamente des lebendigseins« (strand im winter), die unglaubliche Dichte dieser Poesie wird durch das interpunktionslose Schreiben, das keine Rücksicht auf Groß- und Kleinschreibung nimmt noch gesteigert und gibt eine Vielzahl von Perspektiven frei, sowohl in den Texten als auch auf die Texte. So empfiehlt es sich für die Lektüre nicht nur Text und Bild zusammenzulesen, sondern auch einmal nur den Text und nur das Bild in Betracht zu ziehen und den eigenen Assoziationen und Bildern freien Lauf zu lassen, um erneut die Zonen des Unentschiedenen zu begehen. Vielleicht liegt gerade darin das Potential der intermedialen Zusammenschau, die mehr als nur einen realen und imaginären Raum erschafft und so für jeden den Weg zum azzuro dieser wunderbaren, dichten und spannenden Texte und Bilder freilegt, denn
(…) jedem
gehört sein stück doch der
himmel gehört uns im ganzen
wenn wir miteinander tanzen
(azzuro). Wer sehen will, der sehe!
Albert Ostermaier, Wer sehen will, Gedichte, Insel Verlag 2008