Folge 2: … »sich eine Zukunft ohne Krieg auszumalen« …

Ein Buch und eine Meinung

Auf einen literarischen Spaziergang durch Rom mit Friedrich Christan Delius’ Bildnis der Mutter als junge Frau aus dem Rowohlt Verlag 2006

Am 11. November 1943 ist die einundzwanzigjärhige Margarete aus Bad Doberan in Mecklenburg mit ihrem Mann Gert, von dem sie ein Kind erwartet, in der ewigen Stadt Rom angekommen, in der sie sich beide sicher vor dem Zweiten Weltkrieg wähnen. Als sie mit Gert, der als evangelischer Militärpfarrer in Rom tätig ist, das erste und letzte Mal durch Rom spazieren geht, kommt plötzlich die Nachricht seines Abberufungsbefehls nach Nordafrika (Tunis), wo er als Gefreiter, als Sanitäter, Fahrer, Schreiber und Telefonist eingesetzt wird. Nun ist sie sicher in Rom, aber das erst Mal allein im Ausland und von Sehnsucht und Sorge erfüllt. Das Buch erzählt von nur einem Tag, nein, eigentlich nur einer Stunde, Ende Januar 1944, im Leben einer jungen Frau, die hochschwanger einen Spaziergang durch Rom macht. Ihr Ausgangspunkt ist das Haus der Diakonissen Kaiserwerther, in dem sie sich mit einer anderen Deutschen ein Zimmer teilt, deren Verlobter in Australien interniert ist. Die Protagonistin beginnt ihren Spaziergang um 15 Uhr und zielt auf die Via Sicilia, in der sie in einer Kirche um 16 Uhr ein Konzert hören wird. Auf ihrem Spaziergang bewegt sie sich jedoch nicht auf den von Römern und Touristen bevölkerten Straßen und Plätzen. Die junge Frau meidet die Menschenmengen und Sehenswürdigkeiten, sie mag die »Rom-Schwärmer« (S. 60) nicht. Zugleich will sie nicht als Deutsche auffallen.

Die Route, die die Protagonistin nimmt, lässt sich genau nachvollziehen und lädt zu einem Spaziergang auf den Spuren einer jungen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs ein, der eine ganz individuelle Perspektive auf Rom freilegt: Die Protagonistin beginnt in der Via Alessandro Farnese in Richtung Süden und geht bis zur Via Cola di Rienzo. Dort blickt sie in Richtung des Petersplatzes und den Vatikan, kehrt ihm aber den Rücken zu und geht in Richtung der Tiberbrücke und über die Ponte Regina Margherita weiter. Ihre Fußwege werden erweitert durch verschiedene Blickrichtungen. Immer wieder schaut die Protagonisten nach rechts und links, blickt über Brücken und in Straßen, in denen sie im Laufe der vergangenen Woche schon war, die sie meidet oder an die sie sich gerne erinnert. So schweift ihr Blick von der Ponte Regina Margherita auf den Tiber in Richtung der Engelsbrücke, bevor sie in die Via di Ferdinando Savoia einbiegt und schließlich vom Piazza del Popolo in die Via del Babuino blickt, in der sie schon vier Mal gewesen ist, in dieser Glücks- und Dankesstraße, während sie die Via del Corso lieber meidet.

Nachdem sie die Pinciotreppen hinaufgestiegen ist, kann sie die Piazza del Popolo überblicken. Ihr Blick stößt auf den Obelisken und ist weitreichend, bis zum Petersdom. Erneut perspektiviert sie den Petersdom aus der Ferne. Diese Blickachse bricht sich jedoch an der Wart­burg, die sie die ganze Zeit vor Augen mit durch Rom trägt: die Wartburg als Symbol für die Verlässlichkeit der Liebe und den Glauben und für das schöne Deutschland auch als protestantisches Gegenstück zur Peterskirche (siehe Seite 49 und 54). Im Pincio-Park traut sie sich nicht zur Villa Borghese und umgeht damit erneut einen zentralen Anziehungspunkt sowohl für die Römer als auch die Touristen Roms. In der Belvedere Straße kommt sie an der Villa Medici und dem Medici-Brunnen vorbei und erneut geht der Blick in Richtung Petersdom. Der Blick scheint damit viel weitere Strecken zu hinterlassen als sie selbst, die jedoch keinen Moment still zu stehen scheint, auch nicht als sie an der Trinità dei Monti in Richtung Spanische Treppe schaut, einem weiteren touristischen Anziehungspunkt, ebenso wie auf einen der zwölf Obelisken Roms. Nachdem sie durch die Via Sistina, Via Crispi und Via degli Artisti gegangen ist, weiß sie für einen Moment nicht, ob sie rechts oder links gehen soll. Sie entscheidet sich dafür, links die Straße hinauf in die Via Ludovisi zu laufen, um dann die Via Veneto zu überqueren, um schließlich in die Via Sicilia einbiegen zu können. Hier endet ihr Spaziergang. Bevor sie in die Kirche eintritt, in der um 16 Uhr ein Konzert beginnt, wirft sie einen letzten Blick zurück in die Via Veneto, diesmal nicht Richtung Petersdom, sondern Richtung Afrika, wo ihr Geliebter Gert, der Vater ihres Kindes dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt ist. Für den Abend plant sie, einen langen, langen Brief an Gert zu schreiben.  Als das Konzert beginnt, tasten ihre Augen Fenster, Mosaike, Reliefs und Statuen ab. Orgel, Cello, Chor und Gesang, Johann Sebastian Bach und Joseph Haydn lassen ihre Sehnsucht nach Gert ins Unermessliche steigen und doch können wir lesen: »(…) ja, dies war eine schöne Stunde« (S. 112).

Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit, vielleicht auch zwei oder drei und nehmen Sie dieses wunderbare Buch zur Hand, das zart und leise, gefühlvoll, aber alles andere als kitschig, vielmehr einfühlsam und sensibel den Weg einer jungen Frau durch Rom verfolgt, einen Spaziergang, der zu einer Prüfung des Lebens wird, zu einem Gedankengang ohne Punkt und Komma, einem Denken, dass sich im Gehen abbildet. Die Erzählung besteht aus einem einzigen Satz, der durch seine Unterteilung in Abschnitte rhythmisiert wird. Es entsteht ein Fluss der Sprache analog zum Gehen, Schauen und Denken. Die Spiegelungen von Katholizismus und Protestantismus, Petersdom und Wartburg, von Angst und Hoffnung, Krieg und Frieden im Gehen und Schauen werden von Zitaten aus Bibel, Kirchenliedern und Kriegsberichten, Erinnerungen an Gerts Kommentare, Ansichten und kunsthistorischen Betrachtungen durchsetzt, schleusen das Denken in das Gehen ein, machen aus der Sehnsucht eine Bewegung, eine körperliche, seelische und geistige Reflexion. Man kann gar nicht anders, als mitgehen. Und vermutlich geht es Ihnen dann wie mir und auch Sie werden nach der Lektüre sagen: » (…) ja, dies war eine schöne Stunde«.

Friedrich Christian Delius, Bildnis der Mutter als junge Frau, Rowohlt 2006


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