Aus dem Giornale Poetico
(Auszug aus Kapitel 43)
Palermo
»Der letzte Zug von Messina hierher war der beschwerlichste, aber er hat auch viel belohnendes. Die Berge waren mir gar fürchterlich beschrieben worden; ich mietete mir also einen Maulesel mit seinem Führer und setzte ruhig aus. Beschäftigt mit den alten Messeniern, der eisernen Tyrannei der Spartaner, der mutigen Flucht der braven Männer nach Zankle und allen ihren Schicksalen, Unglücksfällen, Ausartungen und Erholungen, die Seele voll von diesen Gedanken stieg ich neben meinem Maulesel den Berg herauf und blieb oft stehen, einen Rückblick auf zwei so schöne Länder zugleich zu nehmen. Melazzo auf einer weitausgehenden Landzunge macht von fern einen hübschen Anblick, und das Land umher scheint nicht übel gebauet zu sein. Auch diese Gegend hat viel im letzten Erdbeben gelitten. Unten am Pelor sah ich zum ersten Mal wieder grüne vaterländische Eichen und die Nachtigallen schlugen wetteifernd aus den Schluchten. Mir ward auf einmal so heimisch wohl dabei, daß ich hier hätte bleiben mögen. Es geht doch nichts über einen deutschen Eichenwald. Bei Barcellona, wie man mir den Ort nannte, sah ich das schönste Tal in ganz Sizilien; und andere sind, deucht mir, schon vor mir dieser Meinung gewesen. Es ist ein reizendes Gemische von Früchten aller Art, Orangen und Öl, Feigen und Wein, Bohnen und Weizen; und die anschließenden Berge sind nicht zu hoch und zu rauh, sondern ihre Gipfel sind noch alle mit schöner Waldung bekrönt. In Patti war kein Pferdestall zu finden: wir ritten also von einem Ort zum andern immer weiter am Ufer hin bis Mitternacht. Patti dankt, deucht mir, seinen Ursprung, oder wenigstens seinen Namen, einem dort geschlossenen Vergleiche in den punischen Kriegen. Den Ort meines Nachtlagers habe ich vergessen, aber die Art nicht. Die See war furchtbar stürmisch, und es hatte entsetzlich geregnet. Mit vieler Mühe konnten wir noch einige Fische und Eier erhalten. Es hatten sich zwei Fremde zu mir geselle, die auch von Messina kamen und ins Land ritten. Wein war genug da, aber kein Brot. Man gab mir aus Höflichkeit die beste Schlafstelle: diese war auf einem steinernen Absatze neben der Krippe; die andern Herren legten sich unten zu den Schweinen. Mein Mauleseltreiber trug zärtliche Sorge für mich und gab mir seine Kapuze: und man begriff überhaupt nicht, wie ich es habe wagen können ohne Kapuze zu reisen. Diese sonderbare Art von schwarzbraunem Mantel mit der spitzigen Kopfdecke ist in ganz Italien und vorzüglich in Sizilien ein Hauptkleidungsstück. Ich hatte ganz Geschmack daran gewonnen; und wenn ich von dieser Nacht urteilen soll, so habe ich Talent zum Kapuziner, denn ich schlief sehr gut. Den ersten Tag machten wir funfzig Millien.«
Quelle: Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus, München: dtv 1997. Online am 03.08.2015: http://gutenberg.spiegel.de/buch/spaziergang-nach-syrakus-im-jahre-1802-4717/43
Johann Gottfried Seume (1763-1810) ist durch sein Werk Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 als Schriftsteller bekannt geworden. Seume studierte zunächst Theologie in Leipzig. Soldatenwerber schleppten ihn 1781 auf dem Weg nach Paris ab, zwangen ihn zum Dienst in der Armee, verfrachteten ihn nach Kanada, wo es jedoch zu keinen Kampfhandlungen mehr kam. Erst 1783 kam er nach Deutschland zurück und floh aus der hessischen Armee. Werber brachten ihn nach Emden, wo er als Musketier für den Preußenkönig Friedrich II. diente. Als ihm Urlaub gewährt wurde, studierte er in Leipzig von 1789-1792 Jura, Philosophie, Philologie und Geschichte. In den Folgejahren arbeitete er als Korrektor in einem Verlag bis er ab 1801 zwei größere Reisen unternahm: eine Reise führte ihn durch Russland, Finnland und Schweden, die andere Reise führte durch Österreich und Italien bis nach Syrakus in Sizilien und auf dem Rückweg auch durch Frankreich.
Mit seinem subjektiven Erlebnisbericht Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 ist Seume berühmt geworden. Das Besondere dieses Textes ist, dass er ganz subjektive Eindrücke beschreibt und das klassische Bildungsideal überwindet zugunsten individuellen Erlebens und Erfahrens und des Fokusses auf soziale, politische und ökonomische Verhältnisse. Nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Erlebnisse in Kanada und Deutschland, interessierte sich Seume besonders für die Freiheitsrechte des Einzelnen, die er auf seinen Reisen in einigen Ländern beobachten und erfahren konnte. Seume hatte sich mit diesem Bericht als ein kulturhistorischer Reiseschriftsteller etabliert, der sich in dieser Funktion und mit seinem Bericht zugleich für den Einzelnen, aber auch ganze Völker aktiv einsetzte und auf das soziale Bewusstsein der Herrschenden einwirkte. Seume berichtete nicht nur subjektiv, sondern auch alltagsnah, politisch und kritisch. Mit seiner Perspektive erahnte Seume bereits früh die sich erst später im 19. Jahrhundert ereignenden sozialen und politischen Eindrücke.
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, herausgegeben von Albert Meier, München: dtv 1997
Johann Gottfried Seume: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, herausgegeben von Jürgen Drews, Frankfurt am Main: Insel 2010
Abbildungsnachweis: Foto: © H.-P.Haack, Antiquariat Dr. Haack Leipzig, Privatbesitz, Lizenz: Creative Commons Attribution 3.0 Unported, Quelle der Originaldatei: https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3ASeume_Spaziergang_nach_Syarkus_Erstausgabe.jpg