»Im Meer schwimmen Krokodile, Eine wahre Geschichte« von Fabio Geda

Aus dem Lessico Famigliare

Deutsche Ausgabe im btb Verlag, italienische Erstausgabe und deutsch-italienische Reclam-Ausgabe.

Die Neuauflage von Fabio Gedas Erzählung Im Meer schwimmen Krokodile ist in einer wunderschönen Ausgabe im btb Verlag erschienen. Sie kennee sie alle, diese kleinen handlichen Bücher im Pocket-Format mit einem Hardcover-Umschlag in Glanzleinen und mit Lesebändchen. Um einiges dicker, im Falle Fabio Gedas ganze fünfzig Seiten, aber so klein, dass es in jedes Handgepäck passt und so schön, dass man es in jedem Bücherregal ausstellen oder gleich dem besten Freund oder der besten Freundin schenken möchte.

Wenn es sich in diesem Fall auch nicht um eine tatsächliche Neuerscheinung, sondern eine Neuauflage in neuem Format handelt (erstmals erschien die Geschichte bereits 2011), ist sie ein guter Anlass noch einmal an dieses sehr lesenswerte Buch zu erinnern. Angesichts der aktuellen Flüchtlingsbewegungen im Mittelmeerraum ist diese Geschichte, die obendrein auf einer wahren Begebenheit beruht, einmal mehr von großer Brisanz für uns Leser von heute.

Fabio Geda erzählt die Geschichte des zehnjährigen Afghanen Enaiatollah Akbari (Enaiat genannt), der, nachdem ihn seine Mutter in Pakistan allein zurücklässt, sich bis nach Italien durchschlägt. Sein Vater war LKW-Fahrer und wurde bei einer Fahrt im Gebirge überfallen und getötet. Seine Arbeitgeber hatten ihm zuvor gedroht, dass wenn er die Waren aus dem Iran nicht unbeschadet besorge, man seine Familie umbringe. Nach seinem Tod forderten sie von seiner Frau, Enaiatollahs Mutter, zunächst Schadensersatz. Als der Onkel Enaiatollahs ihnen nicht mehr weiterhelfen kann, beschließt die Mutter mit ihrem Sohn zu fliehen. In einer Herberge in Pakistan lässt sie ihren Sohn zurück und kehrt nach Afghanistan zurück. Enaiatollah arbeitet zunächst in der Herberge, in der er mit der Mutter übernachtet, bis er seine Reise durch den Iran, die Türkei und Griechenland bis nach Italien antritt. In Italien strandet er in Venedig und schlägt sich bis nach Rom durch: »Please Rome, please Rome« ist die Formel, mit der der kleine Junge sich zu verständigen versucht und dabei immer wieder mit Missverständnissen und Unverständnis zu kämpfen hat. Der Junge erreicht sein Ziel, einen Ort, an dem er bleiben will: 

»Wie findet man einen Ort, an dem man sich weiterentwickeln kann, Enaiat? Woran erkennt man ihn?«
»Daran, dass man nicht mehr weggehen will. Aber bestimmt nicht daran, dass er perfekt wäre. So etwas wie einen perfekten Ort gibt es nicht. Aber es gibt Orte, an denen man wenigstens in Sicherheit ist.«

(S. 169)

Enaiats Reise ist in Rom noch nicht zu Ende: Auf dem Weg in sein zweites Leben tragen ihn am Ende die Worte »scindere Torino, scindere Torino«. Dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, verrät nicht nur der Untertitel, sondern zeigt auch die erzählerische Konstruktion. Immer wieder wird die Erzählung von kursiv gedruckten Passagen unterbrochen, in denen der Protagonist Enaiat mit dem Autor Fabio in ein direktes Gespräch tritt, um darüber zu diskutieren und zu reflektieren, was den Leser an Wissen vermittelt werden muss, um Vorurteile zu bekämpfen, z. B. dass nicht alle Afghanen Talibane sind: »Wir werden das ein für alle Mal klarstellen, Enaiat.« »Das ist mir sehr wichtig, Fabio«, betont der Protagonist und Erzähler Enaiat.

Keineswegs entspricht dieser Text einem nüchternen Bericht, nein, das Reale bricht vielmehr in eine literarische Erzählung ein, die zuweilen ganz poetische Züge annimmt, z. B. wenn sich Enaiat an seine Heimat erinnert: »Und dann die Sterne, jede Menge Sterne. Der Mond. Ich weiß nocht, wie wir manchmal im Freien bei Mondschein aßen, um Petroleum zu sparen.« (Seite 22). Und genau diese Mischung von Fakt und Fiktion, wahrer Begebenheit und Poesie macht Gedas Geschichte so lesenswert, spannend und bewegend.

Geda studierte zwar Kommunikationswissenschaft, bevorzugte nach seinem Studium aber eine Tätigkeit als Sozialarbeiter im Jugendbereich, die er zehn Jahre ausübte und die auf seine Tätigkeit als Autor Einfluss genommen hat, wenn sein Schreiben auch nicht als autobiographisch einzustufen ist. Geda ist Mitarbeiter verschiedener Tages- und Wochenzeitungen und in der sogenannten »Scuola Holden«, einer Schule für Erzähler, die 1994 vom italienischen Schriftsteller Alessandro Baricco in Turin gegründet wurde.

Seit seinem Debüt Per il resto del viaggio ho sperato agli indiani 2007 beschäftigte sich Geda in seinen Texte mit Jugendlichen bzw. Kindern. In Turin lernte Geda im Anschluss an eine Lesung seinen neuen Protagonisten Enaiat kennen und begann sein in Deutschland erfolgreichstes Buch zu schreiben. Im Anschluss an den Erfolg von Im Meer schwimmen Krokodile wurde auch Gedas Debütroman Emils wundersame Reise 2012 ins Deutsche übersetzt sowie 2013 L’estate alla fine del secolo (Der Sommer am Ende des Jahrhunderts). Fabio Geda, 1972 in Turin geboren, hat für sein Werke mehrere Preise erhalten.

Fabio Geda, Im Meer schwimmen Krokodile, Eine wahre Geschichte, München, btb 10. August 2015


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