Ein Buch und einen Meinung
Josef Winklers Natura Morta, Eine Römische Novelle aus dem Jahr 2001
Der Untertitel Eine römische Novelle ist nicht nur der Verweis auf Rom, sondern stellt zugleich klar, dass es sich hier nicht um einen Reisebericht handeln wird, der mit der Exotik der italienischen Fremde spielt. Josef Winkler hat das Programm für sein Schreiben selbst folgendermaßen zusammengefasst: »Es reizt mich jetzt nicht, besonders unglaubliche Geschichten zu erzählen, sondern es reizt mich eher, etwas nicht Unglaubliches unglaublich zu erzählen.« (Josef Winkler zitiert nach Günther A. Höfler (Hg.), Josef Winkler, 1998, S. 10). Genau das gelingt Winkler in diesem Text, der von nicht mehr und nicht weniger handelt als von römischen Marktszenen, Fleisch- und Fischverkäufern, ihrer Arbeit und dem Aufräumen am Ende des Tagewerks auf der Piazza Vittorio Emanuele oder vor dem Vatikan, von Bettlern, Huren und Zigeunern.
Das Marktleben kontrastiert dabei aufs Extremste den Ort an dem es spielt, dem Vatikan. Profanes und Heiliges geraten aneinander bzw. werden über ihre Abgründe miteinander verbunden. Die Erzählung verläuft dabei kaum linear, weil die Beschreibungen wie narrative Brocken den Erzählfluss aufsprengen und es dem Leser so zugleich ermöglichen, an jeder Stelle seines Buches in das Geschehen einzudringen. Völlig handlungsfrei ist seine Novelle dennoch nicht und wie die Bezeichnung Novelle schon ahnen lässt, geht es auch bei Winkler um eine »unerhörte Begebenheit«: den plötzlichen Unfalltod des sechzehn Jahre alten Piccoletto, den Sohn einer Feigenverkäuferin. Mit einer Pizza in der Hand läuft er in ein Feuerwehrauto und ist sofort tot. Für einen Moment kommt an diesem Höhepunkt des Erzählens das gesamte laute und chaotische Marktgeschehen zur Ruhe. Alles steht still. Piccoletto arbeitet unter der Woche für den Fischhändler Frocio, der den Jungen in eine homosexuelle Beziehung verwickelt und der nach der Beerdigung Picolettos am Ende der Novelle fast seinen Verstand verliert. Doch nicht der Plot steht im Zentrum dieser Novelle, sondern die Beschreibungen des Marktgeschehens. Josef Winklers Novelle strotzt dabei vor Sinnlichkeit. Sie schildert Gerüche, Geräusche und Geschmäcker, Blut, Sperma und andere Flüssigkeiten, die das römische Marktgeschehen in sich birgt und es zwischen Verführung und Ekel ansiedeln. Winkler führt dabei seine Leser unmittelbar und schamlos an die Dinge heran:
Zwei mit Sägespänen beklebte Schweinsköpfe mit blutigen Ohren lagen in einem großen, schwarzen Abfallkübel zwischen Schafsköpfen, Hühnerbeinen, Hühnerköpfen, Cola- und Bierdosen. Eine Zigeunerin, die mit der einen Hand ihr Erdnüsse essendes Kund hielt, klaubte mit der anderen weggeworfene Hühnerköpfe, Hühnerbeine und Geflügeleingeweide aus einem Abfallkorb und stopfte sie in ihren Plastiksack. (S. 24)
Oder an anderer Stelle:
In einer mit Südfrüchten dekorierten Schale, zwischen getrockneten Ananas, Feigen und Datteln, lag mit ausgebreiteten Armen eine Jesuskindpuppe mit einem vergoldeten Drahtheiligenschein. Ein kleines, blondes Zigeunerkind mit Schmutz verkrusteter Kopfhaut, das an starkem Haarausfall litt, ging bloßfüßig durch Glasscheiben, Eingeweide, blutige Hühnerköpfe und gelbe Hühnerkrallen auf die Feigenverkäuferin zu. Ein Zigeunermädchen schälte mit ihren rotlackierten, langen, schmutzigen Fingernägeln eine frische, grüne Feige. (…). (S. 60)
Das hat wahrlich nichts mit einem touristischen Blick auf das italienische »La dolce vita« zu tun, das der deutsche Leser für gewöhnlich zu erwarten glaubt, wenn ein deutscher Autor über Italien zu schreiben beginnt. Innerhalb der anschaulich beschriebenen sinnlichen Erfahrungen reiben sich immer wieder Vernunft- und Lustprinzip aneinander, wird die Sehnsucht dadurch befeuert, dass das Objekt der Sehnsucht unverstanden bleibt. Es entwickelt sich eine regelrechte Obsession des Blicks bzw. des Beobachtens, die die Realität ausufern lässt, Raum- und Zeitgrenzen überschreitet und aus gewohnten Ordnungsbahnen hebt. Die reale Welt erscheint als völliges Chaos, das vom distanzierten Beobachter in all seinen Wirklichkeitspartikeln gesammelt wird. Für den Leser bzw. den lesenden Betrachter gibt es kein Entkommen aus der Dichte der oft grausamen Straßenszenen. Der Erzähler tritt völlig zurück, lässt keinerlei Gefühle durchscheinen, kommentiert nicht, sondern sieht und gibt das Gesehene unverändert an seine Leser weiter. Frei von moralischen oder gesellschaftlichen Wahrnehmungszwängen eröffnet sich dem Leser die ganze Breite des beobachteten Lebens. Wie ein Seziermesser durchdringt Winklers Sprache der Beschreibung das Gewebe der Wirklichkeit und das menschliche Bewusstseins, das sich über die Sprache neu zur Welt bringt.
Josef Winkler teilt seine römische Novelle Natura Morta in insgesamt 6 Kapitel ein, von denen das erste und dritte Kapitel selbst Natura Morta heißen. Allen Kapiteln gemeinsam ist, dass ihnen Zitate aus Gedichten von Giuseppe Ungaretti, einem der wichtigsten italienischen Lyriker der Moderne, vorangestellt werden. Die Zitate bleiben mit dem Text selbst unverbunden, sind ein weiteres Fragment der Wirklichkeit und des Bewusstseins von der Wirklichkeit, die der Leser bewältigen muss. Losgelöst von den Ereignissen und Beobachtungen des Erzählers führen sie eine weitere Ebene der Reflexion über Tod und Vergänglichkeit ein. Die Erzählsituation selbst bleibt allerdings offen, denn wer in diesen Zitaten spricht und von wem sie stammen, ist ungeklärt. Und einige weitere Zitate bleiben durch ihre Unkenntlichkeit und Anonymität im Verborgenen des Textes, geschluckt von der Sprache der Wirklichkeit.
Die Schlachtung der Tiere auf dem Familienbauernhof, die Omnipräsenz der Christusfigur und die Geschichten über Tod und Teufel, die Josef Winkler in seiner Kindheit von seiner Großmutter erzählt bekommen hat, bilden die autobiographischen Spuren, die den Erfahrungshintergrund zahlreicher einzelner Szenen dieses Werks kennzeichnen. Die Beschreibungen der zerstörten Körper sind wie Stellvertreter der toten Tiere und geben ihnen ein zeitloses Dasein zurück. Stillleben, Natura Morta, das sind sowohl die Gegenstände der Beschreibungen als auch die Beschreibungen selbst, die durch ihre Sinnlichkeit es dennoch schaffen bewegt und lebendig zu erscheinen. Isolation, Tod, Sexualität und Homosexualität, Körperlichkeit und die Probleme, die diesbezüglich in einer patriarchalen und katholisch geprägten Welt entstehen wie er selbst sie erlebt hat, sind die zentralen Themen seiner Texte. Gerade die Überwindung des biographischen Hintergrunds der meisten seiner frühen Werke, die in der heimatlichen Provinz in Österreich spielen, macht diesen kurzen Text zu einem wichtigen poetologischen Entwicklungsschritt in Winklers Schaffen, das hiermit seine Heimat verlässt, um nach Italien oder auch bis nach Indien aufzubrechen.
Josef Winkler wurde 1953 in Kamering (Österreich) geboren und wuchs auf dem Bauernhof seiner Eltern auf. Nach dem Besuch der Handelsschule arbeitete er in dem Büro der Oberkärntner Molkerei. Seine Mutter, die über den frühen Tod ihres Bruders verstummt war und sein Vater, der die Sprache dieses Jungen nicht verstehen wollten schufen eine »sprachlose Welt«, wie Winkler sie selbst nannte, die die Magie und Anziehung von Sprache vielleicht für Winkler überhaupt erst hervorgebracht haben. Es folgte die Arbeit für einen Verlagsbetrieb, später in der Verwaltung der Klagenfurter Universität für Bildungswissenschaften. Winkler organisierte einen literarischen Kreis und gab die Zeitschrift »Schreibarbeiten« heraus, bis er 1979 mit seinem ersten Roman Menschenkind den zweiten Preis des Ingeborg-Bachmann-Preises hinter Gert Hoffmann gewann. Es folgten zahlreiche Romane und Erzählungen, die allesamt im Suhrkamp Verlag erschienen:
Der Ackermann aus Kärnten (1980) und Muttersprache (1982) bildeten mit seinem ersten Roman die Trilogie Das wilde Kärnten. In den achtziger Jahren folgten Die Verschleppung (1983) und Der Leibeigene (1987). In den neunziger Jahren veröffentlichte Winkler Friedhof der bitteren Orangen (1990), Das Zöglingsheft des Jean Genet (1992), Domra (1996) und Wenn es soweit ist (1998). Das 21. Jahrhundert eröffnet Winkler mit der hier besprochenen Novelle Natura Morta (2001), auf die Leichnam, seine Familie belauernd (2003), Indien Varanasi, Harishchandra. Reisejournal (2006) folgten und Roppongi, Requiem für einen Vater, das Winkler verfasste, nachdem sein Vater im Alter von 99 Jahren verstarb, während er selbst mit seiner Familie in Tokio im Stadtteil Roppongi wohnte. Unermüdlich hat Winkler weitergeschrieben: Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot (2008), Der Katzensilberkranz in der Henselstraße (2009), Schwimmer, kasteie dein Fisch. Bilder und Texte (2010), Die Wetterhähne des Glücks und die Totenkulterer von Kärnten (2011), Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär oder Die Wutausbrücke der Engel (2011), Wortschatz der Nacht (2013), Mutter und der Bleistift (2013) und zuletzt Winnetou, Abel und ich (2014).
Winkler hat zahlreiche Preise erhalten, u. a. den Alfred-Döblin-Preis (2001) oder den Georg-Büchner-Preis (2008). Seit 1994/1995 ist der Stadtschreiber von Bergen. 2009 erhielt Josef Winkler das Ehrendoktorat der Universität Klagenfurt.
Josef Winkler: Natura Morta, Eine römische Novelle, Suhrkamp 2001.
Foto: © Herzi Pinki (Wikimedia Commons)