»Winter in den Abruzzen oder Orangen im Exil« von Natalia Ginzburg

Aus dem Lessico Famigliare

In der Erzählung Winter in den Abruzzen von Natalia Ginzburg passiert zunächst nicht viel und doch eine ganze Menge. Eine Familie lebt im Zweiten Weltkrieg im Exil in den Abruzzen. Mehr geschieht zunächst nicht. Doch die Begegnungen mit den Einheimischen, ihrem Aussehen ebenso wie ihren Angewohnheiten und Charaktereigenschaften, ihren Fragen und ihren Antworten füllen nicht nur die Tage, sondern tauen auch die Fremdheit zu ihnen und ihrem Lebenswandel auf. Die Isolation der Exilanten von der eigenen Identität – dem Leben in der Stadt, dem dortigen Alltag und seiner erblindenden Normalität – macht besonders aufmerksam auf menschliche, zwischenmenschliche Schicksale und Tugenden, auf die Kreisläufe und Verläufe des Lebens der Einheimischen wie auch des eigenen Lebens.

Das Exil entpuppt sich so als der Ort, an dem das neue Leben ebenso wie das Heimweh geboren werden. Das Heimweh schickt die verbannten Seelen in eine zweite Isolation, nämlich nicht nur die vom eigenen Leben, sondern auch die vom Leben der Anderen, der Fremden, bei denen sie Schutz erhalten und von denen sie als Heimatverlorene immer getrennt bleiben. Es tut weh, an zuhause zu denken und es tut genauso weh, nicht daran zu denken. »Zuweilen aber war das Heimweh stechend und bitter, es wurde zum Haß«, heißt es in Ginzburgs Winter in den Abruzzen. Die Gefühle der Exilanten kommen an ihre Grenzen genau wie die städtischen Lebenszentren an ihre Ränder, die Peripherie der Berge, verschoben werden. Die gerade neu anvertrauten Freunde und Nachbarn werden in den Momenten des Heimwehs wieder zu Fremden des alten Lebens. Auf die Grenzüberschreitung folgen also weitere Grenzen, die inneren wie die äußeren, die zwischen Herberge und Verlorenheit, Gemeinschaft und Einsamkeit, zwischen Winter und Sommer, Leben und Tod, Krieg und Frieden, die immer wieder neu beschritten und ausgehandelt werden müssen.

Die rohe, aber auch idyllische Erinnerung an die Verbannung der Familie in ein Bergdorf in den Abruzzen wird durch ein jähes Ende in die Realität – die Zeitgeschichte des Zweiten Weltkrieges – zurückgeschleudert, als die Ermordung des Ehemannes durch die Nazis in einem römischen Gefängnis erzählt wird. Spätestens hier ist klar, dass Ginzburg  von ihrer eigenen Lebensgeschichte mit ihrem Mann Leone Ginzburg, dem Widerstandskämpfer und Mitbegründer des Einaudi Verlages in Turin, den sie 1938 heiratete und mit dem sie 1940 in die Abruzzen verbannt wurde, berichtet. Ihre Verbannung sollte gewährleisten, dass der Faschistisierungsprozess der italienischen Gesellschaft durch Benedetto Mussolini nicht gefährdet wurde. Spätestens jetzt wird ebenso klar, dass auch das Exil, in dem das junge Paar im Winter Orangen bei Girò kaufte, ein der Vergangenheit angehörendes Paradies der Familie war, in dem die Träume, Hoffnungen und Glaubensbekenntnisse an eine neue Zukunft, die sie einst im Exil begleiteten, ebenso unwiederbringlich sind wie das alte Leben, die Heimat und die Einheit der Familie. Die Authentizität dieser Texte rührt dabei nicht nur von dem Wissen um ihre Wahrheit, sondern auch von ihrer klaren, transparenten Sprache, mit der sowohl die erzählerischen als auch teilweise fast philosophischen Passagen begangen werden und die Ginzburgs gesamtes Werk prägt.

Nachzulesen ist diese Erzählung, diese Lebenserinnerung von Natalia Ginzburg u. a. in Italienische Weihnachten, Die schönsten Geschichten, gesammelt von Klaus Wagenbach, Berlin, Wagenbach 2007 bzw. in der Neuauflage im roten Leinen von 2016. Ursprünglich entstammt der Text dem Erzählungsband Die kleinen Tugenden von Natalia Ginzburg (2. Auflage 2016 im Wagenbach Verlag) und ist die erste Geschichte dieser Sammlung, die die Autorin selbst zusammengestellt hat. Wer die italienische Originalversionen bevorzugt, dem sei der Band Le piccole virtù, a cura di Domenico Scarpa aus dem Turiner Einaudi Verlag von 1998 [Erstausgabe 1962] empfohlen.

Neben Winter in den Abruzzen sind genauso die weiteren Erzählungen bzw. Essays lesenswert, etwa Die kaputten Schuhe/Le scarpe rotte, in der die Bedeutsamkeit der vom Leben gezeichneten, der abgetragenen Schuhe nachempfunden wird. In Stille/Silenzio werden die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Stille und des Schweigens reflektiert. In Menschliche Beziehungen/I rapporti umani werden die menschlichen Beziehungen als ein eindeutiges und unmittelbares Problem in den Blick genommen, als eine täglich immer wieder neu zu erarbeitende Qualität. Da gibt es neben den Familienerinnerungen auch Freundschaften und andere menschliche Beziehungen, etwa die zu dem Schriftsteller Cesare Pavese oder zu Ginzburgs zweiten Ehemann Gabriele Baldini, die nicht die großen, sondern die kleinen Tugenden beschreiben.

»Ich weiß nicht, was mich zum Schreiben antreibt. Ich denke, wir schreiben, um mit unseren Nächsten zu kommunizieren«, sagte Ginzburg einmal in einem Interview über ihr Schreiben. Und so fallen die Texte und ihre Inhalte mit der Form und ihrer Autorin unmittelbar zusammen, werden das Erzählen und das Erzählte zu einer Tugend wie Nächstenliebe, Selbstlosigkeit oder Bescheidenheit. Das Schreiben Ginzburgs ist also noch viel mehr als eine Dokumentation, es ist ein Gespräch, auch mit Ihnen, lieber Leser. Hören sie zu und nehmen sie teil!


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