Folge 13: »Unendliche Stille« oder das Schmelzen der Wahrheit im Schnee

Davide Longo, Übersetzungen und Taschenbuchausgaben

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Davide Longos Der Steingänger und warum dieser Roman keine Kriminalgeschichte ist, aber ein großes Stück Literatur

Im Zentrum des Romans Der Steingänger (2004) von Davide Longo, der kein Kriminalroman ist, aber doch um ein Verbrechen kreist, steht der Steingänger Cesare. Er findet den einunddreißigjährigen Fausto Berardi tot auf, mit dem er über mehrere Jahre Flüchtlinge vom piemontesischen Varaita-Tal an der italienisch-französischen Grenze über die Verge nach Frankreich geschleust hat. Cesare, von vielen »der Franzose« genannt, weil er mit seiner Familie 1949 nach Marseille gezogen war, kehrte erst als Erwachsener wieder an seinen Geburtsort zurück. Damals in Frankreich war er elf Jahre alt als es in der Schule nicht lief und er wie sein Vater am Hafen zu arbeiten begann. Wegen der Körperverletzung eines Polizisten bei einer Auseinandersetzung auf einem Frachtschiff kam Cesare fünf Jahre in Haft.

Nach seiner Entlassung kehrte er in den Piemont zurück. Verliebt in die junge Adele, die zu heiraten er sich nicht leisten konnte, ließ er sich überreden als Schleuser für afrikanische Flüchtlinge zu arbeiten. Als Cesare Faustos Leiche im Flussbett des Cumbo entdeckt, ist Cesare längst ein einsamer Mann. Seit Adeles Tod vor dreizehn Jahren lebt er zurückgezogen und allein in den Bergen. Der Fund der Leiche sorgt umso mehr für Gesprächsstoff, denn Fausto ist nicht ertrunken, sondern zwei Schüsse nahmen ihm sein Leben. Im Dorf aber reden die Leute mehr übereinander als miteinander und sofort gerät Cesare unter Verdacht. Das ist die Kriminalgeschichte des Romans.

So nebenbei wie Cesares Familiengeschichte in den Roman einfließt, so randständig geht es auch nur um die lückenlose Aufklärung des Mordfalls. In der Kneipe berichten im Hintergrund die Regionalnachrichten im Fernseher von dem Mord. Die Kommissarin Sonia di Meo, die die Ermittlungen im Mordfall leitet, ist immer wieder im Gespräch mit Cesare, doch dabei entsteht zwischen den beiden eine Nähe und Intimität, die weniger der Aufklärung des Verbrechens als der Erhellung der Figur Cesares dient, der sich sein eigenes Bild von der Lage des Falls macht. In Faustos Hütte findet Cesare einen Beutel mit Geld, Untersuchungsergebnissen und Schlüsseln, es gibt ein Konto bei einer Bank in Frankreich, Kontakte in Turin, Hinweise und Spuren, die kaum Antworten bringen. »Durch das Fenster nach Norden drang das Licht bereits leblos herein, das Fenster nach Süden sah aus wie ein weißes, rahmenloses Bild.« Es ist der Schnee, der alles verschluckt.

Weder die genauen Abläufe, noch ihre Rekonstruktion wie sie typisch für einen Kriminalroman sind, werden hier erzählt, stattdessen erfahren wir von der Wahrnehmungsmatrix der Figuren, z. B. Faustos Vater: »Parin Griros betrachtete die dicken Schneeflocken durchs Fenster, sie waren so weit weg.« Oder: »Die Kommissarin betrachtete den Schnee, der durch das Mondlicht eintönig aussah.« Und ohne metaphorisch oder dramatisch werden zu müssen, liegt in diesem schlichten Realismus bereits das ganze Drama der Verlassenheit verborgen. Subtil und klar zugleich.

In den Vordergrund dieses Romans drängt also vielmehr von der ersten Seite an eine dumpfe, bedrückende, stille Atmosphäre, die einen Stimmungsraum erzeugt, in dem die Menschen mit ihrer eigenen Identität auf unterschiedliche Art zu ringen beginnen, im Zentrum Cesare. Diesen atmosphärisch dichten Ton, den der Roman nicht mehr verlieren wird, befördern die Beschreibungen der Landschaft und das Motiv des Schnees. Die Protagonisten fühlen sich dabei ihrer Umgebung völlig entfremdet: »Hinter sich spürte er die Natur, schweigend und still war sie, aber verbunden fühlte er sich ihr nicht. Auch das Haus, das immer sein Zuhause gewesen war, erschien ihm jetzt fremd.«

Beeindruckend ist diese Intensität und Stringenz mit der Longo eine Stille und Verlassenheit erzeugt, die die Figuren umgibt, aber kaum aufrührt. Ob im Bus, auf der Straße, in der Kneipe oder in den Bergen, so farb- und strukturlos wie der Schnee ist auch die Kommunikation der Dorfbewohner und Protagonisten. Eine Sphäre des Schweigens und der Stille, die erzählt, ohne laut zu werden: »Zurück blieb eine Stille aus vielen kleinen Geräuschen, keines übertönte das andere«, heißt es einmal. So etwa ist das Brummen des Kühlschranks in der örtlichen Kneipe zu hören und nichts weiter – nicht die Stimmen, nicht die Gläser, nicht der Abend, nicht die Straße. Einzig das Brummen des Kühlschranks. Neben der Natur gibt es nur wenige Handlungsorte: da ist Cesares Wohnung, sowie die Hütte Faustos, die Kneipe, die Bäckerei und das Kommissariat.

Auf diese Weise reduziert sich alles im Roman: die Landschaft, die Menschen, ihre Gespräche sowie die Sprache des Autors, die Atmosphäre ebenso wie die Spannung, die Schauplätze ebenso wie die Tageszeiten. In der Reduktion finden Raum und Zeit, Protagonist und Handlung ihre Kraft und Intensität. Diese Reduktion und Stille verschärfen eine Untergangsstimmung, die sich in der Anonymität verliert: »Von draußen kam nicht das leiseste Geräusch, als wäre die Welt längst untergangen.« So erlebt es der junge Sergio: »Den Menschen passieren so viele Dinge, aber keiner weiß etwas vom anderen.«

Longos Sprache und Bildhaftigkeit stehen teilweise in der Tradition einer italienischen Heimatliteratur und ihres prominentesten Vertreters im 20. Jahrhundert: Cesare Pavese. Bereits Pavese nutzte das Gehen durch die Landschaft, die Qualität der Natur, den Wechsel der Jahreszeiten und den Mond – etwa in Junger Mond (1950) –, auf den auch Longo immer wieder verweist, um eine spezifische Atmosphäre der Einsamkeit und Archaik zu erzeugen. Davide Longo, der mit dem Erscheinen seiner Romane in Deutschland als eine neue Stimme der italienischen Literatur gefeiert wurde, wurde 1971 in Carmagnola bei Turin geboren und steht damit dem Piemontesen Pavese auch geographisch ein wenig nahe.

Statt der Aufarbeitung der einen Tat, ereignen sich neue, völlig sinnlose Gewalttaten. Etwa als Cesare sich in Faustos Hütte – dem Tatort – umsieht, trifft er auf Sergio, dem einzigen Zeugen von Faustos Tod. Bevor er ihn erkennt, verletzt er ihn schwer mit einem Messer. Das Gefühl der Grausamkeit entwickelt der Leser selbst, gerade indem der Text ganz bei der bloßen Schilderung dieser Realitäten bleibt. So wird auch die Beerdigung Faustos völlig unsentimental erzählt: »Auf dem Friedhof hielt der Pfarrer eine kurze Predigt, dann wurde der Sarg in die Familiengruft gelegt und der Leichenbestatter schob eine Metallplatte vor die Öffnung, denn es sah nach Schnee aus und vor dem nächsten Tag hätten sie sie nicht verschließen können.«

Als Cesare und Sergio schließlich den letzten Transport von Flüchtlingen erledigen, den eigentlich Fausto hätte machen sollen, kommt es im Gebirge zu einer Schießerei. Der Angreifer wird schließlich erschossen. Dass es sich dabei um denjenigen handelt, mit dem Cesare noch am Grab Faustos gestanden und zu dem er eine langjährige Freundschaft hatte, erwartet der Leser allerdings nicht. Auch wenn ihm vielleicht einfällt, das Cesare gerade ihm von der letzten Überführung der Flüchtlinge nach Frankreich erzählt hatte. Und so bleibt es spannend.

Von der ersten Sekunde an liegt eine Spannung in der Luft dieses Textes, die bis zum Schluss und noch über ihn hinaus anhält. Der ausführlich erzählte Gang durchs Gebirge mit den Flüchtlingen zeichnet immer stärker die Angst ab, die auch Cesare umgibt, der bis dahin trotz aller schrecklichen Ereignisse von einer auffälligen Souveränität umgeben ist. Mit der Fluchtbewegung kommt auch Cesares Psychogramm in Bewegung. Der Ruf einer Eule ist es, der Cesare nach dem Schusswechsel im Gebirge klar macht, »wie einsam er war. Nicht wie sonst, wenn er sich in sein Zimmer einsperrte oder bei dem alten Fort saß. Vielmehr eine Einsamkeit, die man weder mit jemandem teilen noch jemandem mitteilen konnte, denn sie mußte unberührt bleiben, und der Preis dafür war das Schweigen.« Und auch der Roman selbst berührt diese Einsamkeit nicht, sondern schafft es mit dem völlig reduzierten Erzählvorgang und der Reflexion der Wahrnehmungsprozessen, diese Einsamkeit zur Darstellung zu bringen, ohne sie zugleich antasten zu müssen. Dieser Roman redet, in dem er das Schweigen achtet, er erzählt, ohne zu verraten, er erinnert, ohne zu erfinden.

Das Schweigen der Dorfbewohner und der vom Schnee immer wieder bedeckte Ort selbst, erweisen sich als Motiv: »Es ist dumm, wenn man etwas unbedingt wissen will, Cesare. Zumal es die Zweifel sind, die uns am Leben erhalten.« Die Suche nach Erkenntnis, das Ausräumen der Zweifel, das Aussprechen der Fragen wird Cesare mit dem Mord an seiner Hündin bitter bestraft. »Cesare kniff die Augen zusammen, die Sonne blendete allzu stark wegen des Schnees.« Der Schnee ist das Motiv, um Macht und Wissen zu verhandeln. Es schmerzt in den Augen, wenn man auf ihn sieht, ihn schmelzen will. Das Schweigen der Menschen dieses Ortes wird so mehr und mehr zu einem Mechanismus der Unterdrückung. Wer spricht, hat Schlimmes zu befürchten. »Man könnte meinen, in diesem Tal sei Reden eine Schande«, stellt die Kommissarin Sonia fest.

Und doch sind der Schnee und das Schweigen das einzige Lebenszeichen: »Die riesigen weißen Haufen, die der Schneepflug zu beiden Seiten des Denkmals aufgetürmt hatte, waren das einzige Lebendige im Dorf.« Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass das Leben der Menschen dieses Ortes schon längst untergegangen ist, womöglich schon vor Faustos Tod. Denn nichts ist da, was sich trägt, außer die Existenz des Schnees – kein Wärme zwischen den Menschen, keine Aufgeschlossenheit und Nächstenliebe und vor allem kein Vertrauen, weder in die Menschen, noch in das Leben der Gemeinschaft. Ganz am Ende des Romans, als der Auftrag vollbracht ist und es erneut einen Toten im Gebirge gibt, beginnt der Schnee zu schmelzen und der Text zieht sich noch einmal kurz in die Erinnerung zurück bevor es schließlich auch für Cesare zu spät ist.

Obwohl Davide Longos Roman bereits 2004 in Italien erschien und in deutscher Sprache erstmals 2008 im btb Verlag veröffentlicht wurde, ist Longo bei den deutschen Lesern eigentlich erst seit den Neuauflagen des Romans im Wagenbach Verlag 2015 und im Rowohlt Verlag 2016 wirklich angekommen. Vielmehr als ein Krimiautor ist Davide Longo also, auch wenn er nach seiner Entdeckung in Deutschland v. a. als ein solcher gelesen wird. Das mag vielleicht auch an dem Titel seines zweiten ins Deutsche übersetzten Romans liegen: Der Fall Bramard erschien 2015 im Rowohlt Verlag. Der Fall Longo ist damit noch lange nicht abgeschlossen.

Foto: © Paolo Giagheddu, Rowohlt Verlag

Siehe Davide Longo im Rowohlt Verlag

Siehe Davide Longo im Wagenbach Verlag