Ein Buch und einen Meinung
Andreas Rossmanns Mit dem Rücken zum Meer, Ein sizilianisches Tagebuch aus dem Verlag der Buchhandlung Walther König 2017
»Wie wäre unser Bild von, unser Blick auf Italien, wenn wir es nicht in Meran oder Como, sondern in Marsala oder Catania betreten würden?« (S. 70), fragt der Journalist Andreas Rossmann in seinem sizilianischen Tagebuch Mit dem Rücken zum Meer (2017). Schon Goethe betrachtete Sizilien in seiner Italienischen Reise 1787 als »Schlüssel zu allem«, zu Italien. Dass wir das Italien noch immer entdecken können, zeigen neben Rossmanns Texten die eindrucksvollen schwarz-weiß-Fotografien von Barbara Klemm.
Mit dem Rücken zum Meer ist ein auffälliger Titel für jeden Italientouristen, der von diesem schmalen Land fasziniert ist, auch weil es vom Meer umgeben den Blick immer ins Blaue freigibt. Mit dem Rücken zum Meer aber beschreibt eine ganz andere Perspektive, die der Autor nicht nur mit einem Zitat des Schriftstellers Leonardo Sciascia eröffnet, sondern für sein ganzes Buch geltend macht. Mit dem Rücken zum Meer beschreibt nicht nur eine Perspektive auf Land und Leute, sondern weist dem Meer eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Bedeutung zu. Für den Sizilianer ist das Meer kein Sehnsuchtsort, nicht nur ein Zeichen der Freiheit und des Glücks, sondern ein bedrohlicher Raum, der ebenso Krisen und Gefahren in sich birgt. »Das Meer ist Siziliens immerwährende Unsicherheit, sein launisches Schicksal«, lässt Andreas Rossmann den Schriftsteller Sciascia erinnern. Das Meer bringt den Reichtum und führt zugleich ins Verderben, zuweilen sogar in den Tod. Das in diesem Tagebuch dokumentierte sizilianische Leben ist kein Leben inmitten des paradiesischen Meeres, des dolce vita eines Strandtouristen, sondern zeigt sich erst mit dem Rücken zum Meer, in den inländischen Verhältnissen, die sich mitten im Meer auf Sizilien regelrecht auf einem Punkt zentrieren.
Eine Karte in den Buchdeckeln hilft der Orientierung des Lesers, der neben den großen und bekannten Städten wie Palermo, Syrakus, Agrigent und Messina an viele kleinere und unbekanntere Orte geführt wird wie Porticello, Bagheria, Corleone, Castelbuono, Gibellina, Salemi, Reggio Calabria, Augusta, Sant Flavia, Trapani, Ficuzza oder Vizzini, um nur einige wenige zu nennen. In fünf großen Kapiteln, die chronologisch die Jahre 2013-2017 verfolgen, dokumentiert Andreas Rossmann eine Insel aus der Perspektive der Einheimischen, der Ausgewanderten und Eingewanderten, der Zurückgekehrten ebenso wie der Dagebliebenen.
Zufällige Begegnungen, im Flugzeug oder im Café führen Rossmann zu Alltagsrealitäten, zu politischen Problemen, zu Erinnerungen, zur Kunst und zur Geschichte Siziliens. Leonardo Sascia, 1921 in Racamulto/Sizilien geboren, ist nur eine dieser ästhetischen Spuren: Café- und Restaurantbesitzer, Barbesitzer, Besitzer von Pensionen und Ferienwohnungen, Fischer, Sprachlehrer, Buchhändler, Touristenführer, Pfarrer, Bürgermeister, Politiker, Zufallsbekanntschaften – Menschen und Orte, die an Künstler, Mafiosi und politische Persönlichkeiten erinnern wie die Schriftsteller Giuseppe di Lampedusa, Gabriele D’Annunzio, Elio Vittorini, den Veristen Giovanni Verga, den Dramatiker Luigi Pirandello oder den Krimiautor Andrea Camilleri, den Maler Renato Guttuso bis hin zu Filmemachern wie Giuseppe Tornatore. Zur Sprache kommen dabei ganz leichtfüßig Aspekte italienischer Geschichte wie die »Operation Husky«, die Landung der Alliierten auf Sizilien 1943, der Faschismus und der kommunistische Untergrund oder die Mafia.
Jedes Großkapitel besteht aus einer Reihe mal längerer, mal kürzerer Abschnitte und wird mit einer Anflugszene eröffnet. Im Landeflug begegnet der Erzähler den ersten Sizilianern, ihrem unperfekten Charme, ihrem unzerbrechlichen Optimismus und ihrer chaotischen Offenheit. Dabei beschäftigen die Italiener ganz banale Dinge, ihre Smartphones, ihre Taschen, die sie abholenden Verwandten, das Wetter. Und dann lässt Rossmann sie sprechen, sie erzählen selbst davon, was sie machen, wie sie ihr Land sehen. Rossmann durchsetzt diese Dialoge mit seinen eigenen Beobachtungen, so dass eine dichte Beschreibung Siziliens entsteht, die Bilder freisetzt, die Hand in Hand gehen mit den Fotografien von Barbara Klemm.
Klemms Fotografien sind keineswegs schlichte Illustrationen des Textes, sondern stellen einen eigenen, visuellen ›Text‹ bereit, der eigenständig gelesen und betrachtet werden kann. Text und Bild spielen sich immer wieder Motive zu, die jedes Medium auf seine spezifische ästhetische Weise erzählt. Dann wieder driften Text und Bild auseinander und verselbständigen sich in ihrem eigenen Erzählen. Beschreibt der Falz eines Buches für einen Text nur einen Seitenwechsel, bedauert der Betrachter der Fotografien diesen zuweilen, doch muss der Wunsch nach großformatigen Drucken der Fotografien Klemms leider eine Sehnsucht bleiben. Doch das schmälert weder die Bilder an sich, noch ihre Erzählung. Mit dem Rücken zum Meer sind auch die meisten Fotografien entstanden, die den Blick ins Innere, in Täler, in Hinterhöfe, in Straßenfluchten, auf Plätze, in Schaufenster, in offene Türen, auf Fassaden oder auf die Höhen des Ätnas richtet – mit dem Rücken zu Meer macht großartige landschaftliche und bauliche Formationen, den Menschen als soziales Wesen, die Einsamkeit der Räume und die Brechungen touristischer Erwartungshaltungen sichtbar.
»Abfall« ist nicht zufällig eines der Stichwörter, das die blauen Phantasien des Italienreisenden überschattet. Es fällt so häufig in diesem Buch wie sich Plastiktüten und der Dreck der Straße täglich ansammeln und die den nur schwach ausgeprägten italienischen Gemeinsinn visualisieren. Der Italiener stört sich nicht am Müll. Er ist da und dann wieder weg. Mit ihm der Gestank und Ärger. So lebt es sich mit dem Wandel der Zeit. Er kontrastiert dabei mit Orangenbäumen, sauberen Bahnhöfen und gepflegten Gärten. Doch immer wieder »Müll, überall Müll« (S. 13). »Berg und Meer, schwarz und weiß, Schönheit und Schrecken, These und Antithese. Palermo ist immer beides: zwiespältig, zweigesichtig, ein Ort harter Gegensätze und großer Extreme.« (S. 73). Der Müll ist auch ein Indikator für Veränderungen: »Kein Müll, nirgends. Entweder wurde er gerade abgefahren, oder die Zeiten haben sich geändert.« (S. 61).
Der Wandel der Zeit zeigt sich über den einzelnen Tag hinaus an den Bausünden, die durch die Modernisierung von Städten entstanden. Diese Fassaden erzeugen ganz anders als der Müll einen »reiseprospektreife[n] Eindruck« (S. 35), der mit der »angefressenen, bröckelnden Pracht« (S. 33) der historischen Städte kontrastiert wird. Die Kontraste entstehen durch das Aufeinanderprallen von Stillstand und Bewegung der Zeit in der Geschichte Siziliens. Zuweilen erscheint es als habe sich über Jahrzehnte, gar Jahrhunderte nichts verändert und dann wieder ist alles ganz anders. So erinnern die niedergegangenen Schwefelminen in Comitini oder die brachliegenden Raffinerien bei Termini Imerese an eine andauernde Wirtschaftskrise, die alles verändert hat: Die Jugend Siziliens wandert aus, ganze Ortschaften sind leer, marode und unbelebt, Fischer müssen sich mit staatlichen Fangquoten quälen, ein Leiden an Verwaltung und Staat. Das Agrarland kommt gegen den Kapitalismus nur einmal an: in der Küche. Stolz berichtet ein Restaurantbesitzer, dass McDonald die Restaurants nicht hat vertreiben können, auch Touristen bevorzugen die gute sizilianische Küche. Stark ist Sizilien v. a. durch seine Traditionen und alten Schätze: seine Küche und seine archäologischen Funde, die zahlreiche kleine und große Museen füllen. Und doch trägt sich die Kultur nur schwer: »Noch nie, so das Resümee, sei so vielen Menschen nichts anderes übrig geblieben, als den Schmuck ihrer Eltern oder Großeltern zu versetzen.« (S. 57)
Geht es für den Sizilianer um das nackte Überleben, versucht die italienische Mafia Profite herauszuschlagen und Macht zu gewinnen. Davon nicht neuartig beeindruckt, oftmals betroffen und immer schockiert über die Gewalt der Mafia und ihre Opfer, erzählt sich die Geschichte der Mafia auf Sizilien aus dem Alltag heraus wie von selbst – vom Mafiakrieg der Cosa Nostra und des Corleone-Clans, den Mafiaprozessen und der Ermordung des Untersuchungsrichters Giovanni Falcone: eine »bleierne Zeit« (S. 90). Sizilien lebt inmitten dieser Strukturen und gefährdet dabei am allerwenigsten die Touristen, die nicht selten um den Preis des Schlüssels zu allem, das Hotel kaum wagen zu verlassen, denn so hat es doch jeder schon einmal gehört, in Palermo ist die Mafia am schlimmsten. Für Entspannung sorgt die Antimafia-Initiative Addiopizzo. Davon hat man auch schon in Deutschland gehört. Viel mehr kann man sich aber nicht vorstellen.
»Das haben wir oft, wenn wir aus Europa kommen. Die haben hier ein ganz anderes Zeitgefühl.« (S. 72), sagt die Stewardess als die Passagiere noch mit dem Aussteigen warten müssen. Sizilien, das ist eine andere Welt, eine Insel außerhalb der Zeit, fern von der europäischen Gegenwart. »Auf ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger kommt es in Sizilien nicht an.« (S. 104). So schieben sich in Sizilien die Antike oder das Barock in die Gegenwart, während die Armut in der sizilianischen Gegenwart mit dem Rücken zur Zukunft steht, in der sie nur schwer einen Platz findet. Vom Fuße Europas aus ist der Kopf nicht mehr zu sehen: »Italien war einmal begeistert von der europäischen Idee – davon ist nicht viel übrig geblieben.« (S. 116)
Kein Reiseführer, kein Cinecittà für Italienträume, keine Lektüre für Angsthasen auf Italienreise, keine Lektüre für Leute, die Urlaub machen, aber dabei nicht auf Reisen gehen wollen. Das sizilianische Tagebuch von Andreas Rossmann und Barbara Klemm bringt Überraschendes zutage, schlagen Sie es auf, nehmen Sie den Schlüssel in die Hand und fliegen Sie hin!
Andreas Rossmann lebt in Köln und ist Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für Nordrhein-Westfalen. Die Presse-/Fotografin Barbara Klemm war bis zu ihrer Pensionierung 2005 Redaktionsfotografin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Andreas Rossmann: Mit dem Rücken zum Meer, Ein sizilianisches Tagebuch, mit Fotografien von Barbara Klemm, Verlag der Buchhandlung Walther König 2017.