Über die Sehnsucht, die uns umtreibt und antreibt

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne, 
Am Fenster ich einsam stand 
Und hörte aus weiter Ferne 
Ein Posthorn im stillen Land. 
Das Herz mir im Leib entbrennte, 
Da hab' ich mir heimlich gedacht: 
Ach wer da mitreisen könnte 
In der prächtigen Sommernacht!
 
Zwei junge Gesellen gingen 
Vorüber am Bergeshang, 
Ich hörte im Wandern sie singen 
Die stille Gegend entlang: 
Von schwindelnden Felsenschlüften, 
Wo die Wälder rauschen so sacht, 
Von Quellen, die von den Klüften 
Sich stürzen in die Waldesnacht.
 
Sie sangen von Marmorbildern, 
Von Gärten, die über'm Gestein 
In dämmernden Lauben verwildern, 
Palästen im Mondenschein, 
Wo die Mädchen am Fenster lauschen, 
Wann der Lauten Klang erwacht, 
Und die Brunnen verschlafen rauschen 
In der prächtigen Sommernacht. 

Joseph von Eichendorff

Das Gedicht »Sehnsucht« von Joseph von Eichendorff erschien erstmals 1834 in seinem Roman Dichter und Gesellen. In dem Roman macht sich Baron Fortunat auf den Weg nach Italien. Auf seiner Reise zu Pferd begegnet er verschiedenen Menschen, Bekannten, Freunden, Künstlern und Frauen, bis er schließlich in Rom ankommt, wo ihm ein Freund aus Heidelberg eine Wohnung beschaffen hat. Der Roman erzählt entlang der Reise des Künstlers nach Italien, entlang seiner Begegnungen und seiner einsamen Stunden, seiner Erfahrung von Akzeptanz und Ablehnung exemplarisch, was man mit Kunst in der Welt bewirken und zugleich in ihr anrichten kann. Dabei ist es die Sehnsucht, die in zugleich umtreibt, aber auch antreibt.

Sehnsucht stiftet Unruhe und ist damit Ursprung einer jeden Tat, die aus dem Inneren begründet und leidenschaftlich verteidigt wird. Sehnsucht gibt der Hoffnung in der Not die Kraft, die sie braucht, damit es dem Hoffenden gelingt, durchzuhalten. Sehnsucht ist ein Ziel in unserer Fantasie, von dem wir glauben, das wir es in der Realität erreichen können. Sehnsucht ist zugleich ein Schmerz und eine Freude. Für Fortunat in »Dichter und Gesellen« ergießt sich seine Sehnsucht in seiner Poesie, die er als Aufgabe und Lebensform versteht. Dabei spielt Italien eine existenzielle Schlüsselrolle, insofern die Reise die Tat ist, die seine Sehnsucht nach Heimat in der Welt und in der Kunst verursacht hat. Denn Heimat kann nur der finden, der Heimweh hat.

In Tagen wie diesen – der Zeit der Corona-Krise – sehnen wir Menschen uns, die wir die Welt nur mit dem Blick und dem Ruf aus dem Fenster erreichen, nach unserer Heimat. Wir fühlen Heimweh in unserer Heimat, wir sehnen uns nach der Reise in die Welt und vor unseren eigenen Haustüren, nach einer »Reise«, die uns mit unserem eigenen Leben wieder verbindet. Dabei denken wir sowohl an unsere Freunde in Italien und in der ganzen Welt als auch an die Begegnungen mit Freunden, mit Familie, Kollegen, und auch mit uns fremden Menschen, die zu neuen Freunden und Bekannten werden können. Wir denken an die Begegnungen im Alltag und an die Begegnung mit unserer Kultur – unserer Esskultur, unserer Kino- und Theaterkultur, unsere Musikkultur und unsere Bildwelten in Museen und beim Gang durch unsere Stadt.

Und so ist dieses Gedicht von Joseph von Eichendorff viel näher an unseren Gefühlswelten, als wir es uns spontan vielleicht vorstellen können. Mit diesem Gedicht und den Fotos italienischer Fenster sei ein Bogen von der Romantik in die Gegenwart gespannt (das Fenster ist ein zentrales Motiv in der Literatur und Bildenden Kunst der Romantik) und von unseren italienischen Freund zu uns und umgekehrt. Wir alle werden uns dieser Tage gerade weil wir auf unsere Fensterausschnitte zurückgeworfen sind und uns nach der Welt da draußen sehnen, unserer Freundschaften und Werte bewusst. Italien, das Land, das die Deutschen seit Jahrhunderten lieben, und mit dem wir in dieser Krise bangen, ist und bleibt ein Sehnsuchtsort, weil wir in ihm nicht nur die Ferne, sondern immer auch unsere eigene Heimat suchen.

Ich kann es kaum erwarten wieder im warmen Schein der Sonne durch meine Heimatstadt zu ziehen und nach Italien zu reisen, um meine Sehnsucht nach Heimat und Freundschaft zu leben. Nutzen wir diese seltsame Zeit für Augenblicke, die einen Rahmen nicht nur im Fenster unserer Wohnungen und Häuser finden, sondern auch in der Literatur und den Künsten allgemein. Es ist schließlich der Augenblick, in dem wir uns an dieses Gedicht, aber auch an den in Deutschland noch viel zu unbekannten Roman Dichter und Gesellen von Joseph von Eichendorff erinnern können.