Ein Buch und einen Meinung
Elio Vittorinis Gespräch in Sizilien aus dem Wagenbach Verlag 2011
Ernest Hemingway nannte Vittorinis Roman Conversazione in Sicilia das »schönste Buch aus Italien«. So hielt es Hemingway in seinem Vorwort fest, das er für die amerikanische Übersetzung von Vittorinis Roman 1949 schreiben durfte.
Der Roman mit dem italienischen Titel Conversazione in Sicilia erschien in Italien erstmals unter dem Titel Nome e lacrime als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Letteratura in den Jahren 1938, 1939 und 1941. Die erste Buchfassung, die 1941 bei Parenti in Florenz erschien führte diesen Titel fort, während die noch im selben Jahr erscheinende Ausgabe bei Bompiani in Mailand dem Roman den Titel Conversazione in Siciliagab, der bis heute geblieben ist. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1943 erneut unter anderem Titel, nämlich Tränen im Wein und erst 1948 als Gespräch in Sizilien. Die wechselvolle Geschichte der Titelveränderungen ist Abbild für die Bedeutung und Wirkung, die dieser Roman seinerzeit bereits erhielt. Vittorinis Roman, der noch während des Zweiten Weltkriegs erschien, enthält deutlich kritische Anspielungen auf die faschistischen Diktatur Mussolinis in Italien. Er wurde daher nur wenig nach seinem Erscheinen von der Zensur verboten. Während die erste Titelgebung Nome e lacrime bzw. Tränen im Wein zwar dramatischer als »Gespräch in Sizilien« klang, lenkte sie allerdings stärker von der politischen Bedeutung dieses Romans ab und war daher geeigneter, der politischen Zensur zu entgehen. Der zweite Titel Conversazione in Sicilia bzw. Gespräch in Sizilien ist hingegen nicht nur sachlicher, sondern gibt zugleich den Modus an, in dem dieser Roman gelesen werden kann oder soll: als ein Gespräch. Der Roman wollte ein demokratisches Gesprächsangebot sein, einen auch politischen, in jedem Fall gesellschaftlichen und ethischen Dialog anstoßen, um einerseits die gegenwärtigen Lebenssituationen in Italien zu beschreiben und andererseits Veränderungen durch Reflexionen in Gang setzen, die Folge eines solchen Gesprächs in Sizilien sein können. Vittorini schrieb diesen Roman bereits 1937 und noch unter dem Eindruck des Spanischen Bürgerkriegs von 1936. Die politische Brisanz seines Romans fand darin zwar seinen Anstoß, beschränkte sich aber nicht auf dieses historische Moment, sondern traf in das Mark einer ganzen Epoche und Generation.
Unsere kleine Titelanalyse sei an dieser Stelle zwar beendet, doch unser Gespräch damit noch längst nicht. Das Gespräch bzw. der Dialog ist nämlich mehr als ein Titel oder ein demokratischer Impuls, es ist auch ästhetisches Programm: Die Dialog-Passagen dominieren deutlich die rein erzählenden und beschreibenden Teile des Romans. Geführt wird dieses Gespräch vom Protagonisten und Erzähler Silvestro, der nach fünfzehn Jahren für drei Tage in seine Heimat nach Sizilien zurückkehrt, um seine Mutter zu besuchen. Bei seiner Reise in das sizilianische Bergdorf seiner Kindheit kommt Silvestro mit unterschiedlichen Menschen ins Gespräch, mit Zugreisenden, Wanderern, Messerschleifern, Scherenschleifern, Hungernden und Kranken, um die sich seine Mutter im Dorf kümmert. An einem seiner Tage in Sizilien begleitet Silvestro seine Mutter bei ihren Rundgängen. Die Begegnungen mit den Dorfbewohnern lassen ihn die Grenze zwischen vertraut und fremd, nah und fern, wirklich und unwirklich, menschlich und unmenschlich erfahren:
Ich schaute ihn an und sah, daß er die Augen aufgemacht hatte. Er hielt sie starr auf mich gerichtet; er erforschte mich, und ich erforschte ihn in seinen Augen; und einen Moment lang war es, als wären wir allein, von Mensch zu Mensch, sogar ohne den zufälligen Umstand seiner Krankheit. Ich sah auch nicht die Farbe seiner Augen, ich sah darin nur die Menschheit, die sie verkörperten. (Seite 98)
Ins Gespräch geraten in diesem Roman nicht nur unterschiedliche Menschen, sondern auch verschiedene Dimensionen der Wirklichkeit: die Realität trifft auf den Traum – Silvestro erscheint sein toter Bruder im Traum – und der Traum auf eine Wirklichkeit, die nicht dieselbe ist wie die Realität. Oder es ist der Tag, der auf die Trugbilder der Nacht trifft, die gegenwärtige Erfahrung, die mit der Erinnerung konfrontiert wird. Wie jetzt? Nochmal: Realität, Wirklichkeit, Traum und Erinnerung sind keineswegs dasselbe und dennoch nicht vollständig voneinander getrennt. Sie begegnen einander, vermischen sich, entzerren sich wieder bis sie erneut aufeinanderstoßen. Dann trifft die einst erste Realität der Erinnerung auf eine zweite in der Gegenwart oder der erste Traum auf einen zweite Wirklichkeit, die der zuerst erfahrenen Realität nicht mehr entspricht. So einfach ist es eben nicht mit der Wirklichkeit. Nie aber überschreitet Vittorini die Grenze der Realität ins fantastische oder surreale. Er bleibt in der Realität, bleibt realistisch, nutzt aber die verschiedenen Potenzen und Modi der Realität, um auf ihre Grenzen aufmerksam zu machen. Nicht immer ist man sich also sicher in welcher Sphäre man sich gerade bewegt und so erinnert uns dieser Roman auch daran, dass es wichtig ist, die Wirklichkeit in ihren verschiedenen Dimensionen im Blick zu behalten, um ihre Veränderungen wahrnehmen zu können und ein gerade realistisches Bild von der Welt zu erhalten. Gegeben ist dabei nicht nur eine erste, zweite und dritte Dimension, nein, Sizilien erscheint sogar in der vierten Dimension: »…kurz gesagt Sizilien selbst, alles zweimal wirklich und auf Reisen, vierte Dimension.« (Seite 52). »Jedes Ding war beides, also zweimal wirklich; und vielleicht war es mir darum nicht gleichgültig, daß ich reiste (…).« (ebd.) Die Wiederbegegnungen mit seiner Mutter, mit alten Bekannten ebenso wie mit den ihm unbekannten Menschen seiner Heimat mischen sich mit Erinnerungen an seine Kindheit und lösen in Silvestro die »Empfindung einer vierten Dimension« aus. Nicht nur ästhetisch erzeugt Vittorinis Komposition und Erzählweise Schwellenerfahrungen, sondern ebenso ethisch, nämlich dann wenn die Wirklichkeit in ihrer vierten Dimension ansichtig wird. Die Auseinandersetzung mit den Realitäten der Realität ist also keineswegs nur ein ästhetisches Spiel, sondern ethisches Anliegen. Es ist das ethische Engagement, der Gesellschaft seiner Leser die feinen Unterschiede zwischen der politischen Öffentlichkeit und den privaten Lebenssituationen sowie die Komplexität seiner Zeit aufzuzeigen. Seien wir also gesprächsbereit.
Und Sizilien? Ein Reiseführer ist dieser Roman nicht und soll es auch nicht sein. Der Epilog, der dem Roman angefügt ist, verweist seine Leser darauf, dass Sizilien austauschbar ist und der Roman nur zufällig dort spielt. Enttäuscht? Keineswegs notwendig. Vittorinis Roman nimmt uns die Ansichten seiner Heimatinsel und ihrer Landschaft oder Architektur nicht vorweg, soll er auch gar nicht. Hier geht es um mehr als um Hitze, Zitronen und Badestrände. Als Erzähler, der aus Sizilien stammt, verrät er uns andererseits vielmehr von Sizilien als uns auf den ersten Blick vielleicht bewusst ist: von den Lebensverhältnissen der dreißiger und vierziger Jahre, den Entfremdungserscheinungen einer ganzen Generation, die dieser Insel verlassen hat, um im Norden des Landes oder im Ausland ihr Glück zu finden, zumindest beruflich und finanziell.
So erging es auch Elio Vittorini selbst. Mit siebzehn Jahren beschloss Vittorini, der 1908 in Syrakus als Sohn eines Eisenbahners geboren wurde, Sizilien zu verlassen. 1929 war es dann so weit. Vittorini verließ Syrakus mit seiner Frau Rosa Quasimodo (Ehefrau des berühmten Lyrikers Salvatore Quasimodo) und arbeitete zunächst als Buchhalter eines Bauunternehmens in Venetien bis er von seinen journalistischen und dichterischen Tätigkeiten leben konnte. Als Schriftsteller, Übersetzer und Herausgeber der Zeitschrift Politecnico machte er sich zu einer der wichtigsten Stimmen Italiens während und nach dem zweiten Weltkrieg – künstlerisch, publizistisch und gesellschaftspolitisch. Vittorini ebnete mit seinem Roman außerdem den Weg des italienischen Neorealismus, einer ästhetischen Strömung, die dann später v. a. im Film der fünfziger Jahre ihre Blüte erfuhr und weltberühmt wurde. Kern des italienischen Neorealismus wurde jenes Zusammenspiel von Ästhetik und Ethik, dass bereits sein Roman Conversazione in Sicilia hergestellt hatte.
Vittorini starb 1966 in Mailand. Wir sollten ihn nicht vergessen und unbedingt immer wieder lesen, auch wenn uns die Realitäten, die er schildert fremd und die Sprache zuweilen karg erscheint. Doch die ästhetischen wie ethischen Themen, Fragen und Kritiken, die Vittorini entwickelt, sind zeitlos aktuell, vielleicht nicht gerade in unserem eigenen Wohnzimmer oder vor unserer eigenen Haustür, aber irgendwo in unserer Gegenwart mit Sicherheit. Vielleicht schon direkt nebenan. Es gibt also noch immer Gesprächsbedarf. Schade nur, dass Vittorinis Werke zwar in deutscher Übersetzung vorliegen, doch nur die wenigsten Titel lieferbar sind.
Und ich: »Hat er nie gesagt, daß es andere Aufgaben braucht? Neue Aufgaben, und nicht mehr die altgewohnten? Hat er das nie gesagt?« (Seite 72)
Elio Vittorini: Gespräch in Sizilien, aus dem Italienischen von Trude Fein, Wagenbach Verlag 2011.
Sehr zu empfehlen ist auch folgende italienische Ausgabe, in der einige Fotografien und Abbildungen aufgenommen wurden:
Elio Vittorini: Conversazione in Sicilia, Bompiani 2007.