1956

Chronik
Michele Ferrero eröffnete den ersten ausländischen Ferrero Standort im hessischen Stadtalleendorf, einer Mittelstadt östlich von Marburg. Das Unternehmen „Ferrero Deutschland GmbH“ lief damals noch unter dem Namen „Assia GmbH“. Vor allem mit seinen Produkten „Nutella“ und „Mon Chéri“ ist er nicht nur in Deutschland, sondern weltweit berühmt geworden. Die Praline „Mon Chéri“ brachte Ferrero 1956 überhaupt erstmalig in Deutschland heraus. Er hat sich damit vom piemontesischen Konditor aus Alba zum Unternehmer eines Weltkonzerns entwickelt. Michele Ferrero ist am 14. Februar 2015 in Monte Carlo im Alter von 90 Jahren verstorben.

1961

Chronik

Die Firma „Kraft Foods“ bringt das erste Nudel-Halbfertiggericht italienischer Art namens „Mirácoli“ (von italienisch „miracolo“ = Wunder) auf den Markt. Es ist bis heute ein Klassiker in der deutschen Küche und nach wie vor sehr beliebt. Allein auf Facebook geben über 126 000 Menschen bekannt, dass ihnen dieses Produkt gefällt. Seit 2012 wird das Produkt durch die Firma Mars Incorporated hergestellt und vertrieben.

Neuerscheinung: Davide Longo

Bildgestaltung in Anlehnung an die Cover-Struktur des Wagenbach Verlages 

Die Romane von Davide Longe

In seinen Büchern schildert Longo die Berglandschaften seiner Heimat Piemont, einsame Dörfer und ihre verschlossenen Bewohner. Sein Roman Der Steingängerhandelt vom Mord am jungen Mann Fausto in einem piemontesischen Tal. Der Hauptverdacht für den Mord an Fausto liegt bei Cesare, der in der Vergangenheit jahrelang zusammen mit Fausto als Schleuser Flüchtlinge von Italien über die Berge nach Frankreich führte. Diese Zeiten sind längst vorbei und Cesare findet eines Tages zufällig seinen Patensohn und ehemaligen Kollegen Fausto tot in einem Bachlauf auf. Die Ermittlungen der Polizei können das Schweigen des gesamten Dorfes nicht brechen. Die Schweigsamkeit der Dorfbewohner ist zugleich ästhetisches Stilprinzip des Romans, der erzählt, indem er verschweigt und damit sowohl seine Figuren als auch das Erzählen an seine Grenzen führt. Erst die Ermittlungen Cesares selbst bringen Klarheit in das Geheimnis um diesen Mord, der sich nicht als ein berufliches Verbrechen erweist, sondern eine Tat aus den klassischen Motiven wie Freundschaft und Verrat, Liebe und Rache.

Mit einer atmosphärisch aufgeladenen und zugleich klaren und schnörkellosen Sprache erzählt Longo nicht nur in diesem Roman, sondern auch in seinem zweiten Kriminalroman Der Fall Bramard, der erstmalig in deutscher Übersetzung im Rowohlt Verlag erschienen ist. Kommissar Corso Bramard soll eine ganze Serie von Morden an Frauen aufklären, die alle einem Ritual zu folgen scheinen. Alle Leichen sind durch feine Schnitte auf dem Rücken gekennzeichnet. Kurz bevor Bramard das den Morden zugrunde liegende Muster erkennen kann, wird seine eigene Frau Michelle getötet und es verschwindet nicht nur der Mörder, sondern auch seine kleine Tochter Martina. Tief erschüttert gibt Bramard daraufhin seinen Posten als Kommissar auf und zieht sich als Geschichtslehrer in sein piemontesisches Elternhaus zurück. In dieser Lebenslage setzt das Romangeschehen ein. Von den Ereignissen der Vergangenheit wie von Dämonen verfolgt, lebt Bramard zurückgezogen bis ihn ihn eines Tages ein Brief des Mörders mit Zeilen aus Leonard Cohens Gedicht „Story of Isaac“ erreicht, die ihn dazu veranlassen, die Ermittlungen zu den Serienmorden sowie dem Verschwinden seiner Tochter erneut aufzunehmen. Die von Longo äußerst spannend komponierte Kriminalgeschichte verbindet sich dabei mit der genauen Analyse unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus, die sich zwischen der dekadenten Oberschicht Turins und der kargen Bergwelt des Piemonts entfalten. Die kurzen Kapitel reihen Ereignis an Ereignis, sind durchsetzt von literarischen Verweisen auf Maupassant, Montale und dem japanischen Autor Kawabata wodurch die Handlung an Vielschichtigkeit gewinnt, ohne an Tempo und  Anziehungskraft zu verlieren.

Davide Longo wurde 1971 in Carmagnola bei Turin geboren, studierte an der berühmten Turiner Literaturhochschule Scuola Holden, an der er heute selbst lehrt. Für seinen ersten Roman Un mattino a Irgalem (2001), das vom Abessinienkrieg 1936 handelt, erhielt 2002 den Premio Grinzane Cavour und wenig später den Premio Via Po für das beste Erstlingswerk. Für seinen zweiten Roman Der Steingänger (Il mangiatore di pietre, 2004), der nun in neuer Auflage im Wagenbach-Verlag erschienen ist, erhielt Longo ebenso bereits zwei Preise: den Premio Città di Bergamo und den Premio Viadana. Longos dritter Roman L‘Uomo Verticale (Der aufrechte Mann) erschien 2010. Sein letzter Roman Il caso Bramard erschien 2014 im Feltrinelli Verlag und erscheint nun erstmals in deutscher Übersetzung (Der Fall Bramard) im Rowohlt Verlag in Hamburg in der Übersetzung von Barbara Kleiner. Neben seiner Tätigkeit als Romanautor und Erzähler, verfasst Longo auch ein Kinderbuch (Il laboratorio di Pinot, 2002), Dramen (Pietro Fuoco e Cobalto, Il lavoro Cantato, About Fenoglio u.a.) sowie Beiträge für zahlreiche italienische Zeitungen und den Rundfunksender RadioRai. Er arbeitet als Regisseur von Dokumentarfilmen (Carmagnola che resiste, Memorie dell’Altoforno) und Herausgeber u.a. im Einaudi Verlag, in dem die Anthologie Racconti di Montagna (2007) erschien. Longo lebt in Carmagnola. 

Longo wird nicht nur in Italien, sondern auch im deutschen Feuilleton als eine große Begabung der jungen italienischen Gegenwartsliteratur (zu der Autoren wie Paolo Giordano, Andrea Bajani und Michela Murgia gezählt werden können) gefeiert. Für weitere Informationen siehe den Link zur Homepage des Autors: http://www.davidelongo.com/
Davide Longo: Der Steingänger, Berlin: Wagenbach Verlag 2015, 176 Seiten, 9,90 €. Davide Longo: Der Fall Bramard, Hamburg: Rowohlt Verlag 2015, 320 Seiten, 19,95 €.
 

Folge 4: Mit Ortheil unterwegs: „Rom erleben“

Hanns-Josef Ortheil: Rom, Eine Ekstase, Berlin: Insel Verlag 2011.

Wer nach Italien reist, den zieht es früher oder später nach Rom, der ewigen Stadt, die wie keine andere von der Spannung zwischen Norden und Süden, zwischen Mythos und Realität, Vergangenheit und Gegenwart lebt. Und dann träumen wir von einem Glas Wein, etwas Pasta, Pizza, verwinkelten Gassen, dem Tiber, Piazza Navona und Sixtinischer Kapelle, knatternden Motorini an der Piazza Vittorio Emanuelle und lauer Sommerluft am Abend in Trastevere. Nicht nur einen Vorgeschmack, sondern genau diesen Genuss und noch viel mehr schenkt uns Hanns-Josef Ortheil mit seinem 2011 im Insel Verlag in Berlin erschienen Buch Rom. Er beschreibt nicht nur die Ekstasen Roms, sondern zieht seine Leser so tief in die Erzählung hinein, dass diese selbst beim Lesen römische Ekstasen erleben können. Dass es sich um vielmehr als um einen klassischen Reiseführer handelt, offenbart bereits der Untertitel Eine Ekstase. 

Ortheil fokussiert Rom als ein sinnliches Erlebnis, einen Rausch, der alles vergessen lässt und von Menschen unterschiedlicher Zeiten erlebt worden ist. Darunter zahlreiche Künstler, die mit ihren Werken dazu beigetragen haben, dass die Sehnsucht nach Rom ungebrochen geblieben ist und die Erwartungen einer Rom-Ekstase eher noch gestiegen sind. An der Ekstase „Rom“ ändert folglich auch die globalisierte und virtuelle Gegenwart nichts, für die jedes Geheimnis durch eine virtuelle Vorerfahrung bereits gelöst zu sein scheint und jede Sehnsucht gar nicht erst aufkommen braucht, weil jeder Ort in kürzester und zu jeder Zeit erreichbar ist. Nein, Rom ist und bleibt eine ewige Sehnsucht und eine Ekstase für alle, die Italien lieben wie der gebürtige Kölner Ortheil, der einige Jahren in Rom als Musikstudent, Pianist, Stipendiat der Villa Massimo und als Reisender gelebt hat. Der heute in Stuttgart lebende Professor für Kulturjournalismus Ortheil ist nicht nur Italienliebhaber, sondern ein wahrer Rom-Kenner. Seine autobiographischen Erfahrungen seit den späten sechziger Jahren stellt Ortheil allerdings nicht in den Vordergrund, sondern vermengt sie anachronistisch mit der Erzählung beispielsweise der Ankunft Goethes in Rom und seiner ersten Begegnung mit dem Maler Johann Heinrich Tischbein, der Goethe später in der Campagna porträtieren wird. Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich auf der Ebene sinnlicher Erfahrungen wie der des Essens. Der Leser bekommt z.B. die Gelegenheit sich an den Mittagstisch der Locanda dell’Orso zu setzen, an dem Goethe bereits 1786 gesessen hat (Goethe reiste von 1786-1788 durch Italien) und an derselben Stelle der Erzähler die heutige Enoteca Buccone betritt, eine 1969 eröffnete Weinhandlung, in der es jene kleinen „primi piatti“ zur Weinverkostung gibt, die der Leser als Rezept erhält. So vermischen sich historische Spuren mit sinnlichen Erfahrungen in der Gegenwart und die Literaturgeschichte der Italiensehnsucht deutscher Dichter mit modernen Biographien des 20. Jahrhunderts. Es wird eine Nähe hergestellt, die aus dem Verlauf der Weltgeschichte eine Dorfgeschichte macht und so ist auch die traditionelle Küche der italienischen Metropole eigentlich eine ländliche. Das Ferne liegt folglich so nah wie dieses Buch für den italienaffinen Leser.   

„Künstlern ein Paradies anzubieten und zu sehen, wie sie damit fertig werden“ (Ortheil, Rom, S. 156)

So wenig Goethes Italienische Reise (1813-1817) weder eindeutig als autobiographischer Roman noch als Reisedokumentation eingestuft werden kann, changiert auch Ortheils Buch zwischen verschiedenen Genres und Erzählmodi. Es lässt sich weder von einem klassischen Reiseführer, noch von einem Tagebuch oder einem Roman sprechen. Aufgenommen werden neben den Rezepten auch Notizen, Bild- und Architekturbeschreibungen, Weinempfehlungen, Geheimtipps und historische Berichte. Neben den unterschiedlichen textlichen Merkmalen sticht die besondere Bildauswahl ins Auge. Die von seinen Kindern Lotta und Lukas angefertigten Fotografien zeigen keine Illustrationen historischer Baudenkmäler wie wir es aus Reiseführern kennen, auch keine gewöhnlichen Karten zur Orientierung des Touristen auf seinen Tagesausflügen. Die Abbildungen wollen anderes übermitteln: Die historische Karte des Piazza del Popolo etwa zeigt die drei von ihr abgehenden Corsi, mit denen Ortheil drei Möglichkeit in Rom „anzukommen“ beschreibt. Die Fotografien von Pinienbäumen, Treppenaufgängen, Kuppelausschnitten, Brückenansichten des Tibers oder Lebensmittelgeschäften erinnern nebensächliche Details und individuelle Eindrücke. Keineswegs handelt es sich um zentralperspektivische Blicke auf die zu erwartenden Bildmotive der Stadt Rom wie etwa den Petersdom. Text und Bild korrespondieren hier ganz eng miteinander: beide ersetzen die touristische Perspektive durch die Perspektive des Einheimischen und des Individualisten. Wir gehen wie ein Römer, zumindest wie ein Rom-Kenner durch Rom, auch wenn wir selbst keiner sind – das ist das besondere dieser ortheil‘schen Romdarstellung. Abgerundet wird das Buch durch biographische Angaben zum Autor, einem Rezeptregister und einem sehr informativen „Bücher-Menü“. Letzteres versammelt noch einmal alle in den Kapiteln aufgerufenen Autoren und Werke und bietet damit auch einen Überblick über die Italienwahrnehmung in den wichtigsten bzw. bekanntesten Werken europäischer Literatur über Italien. Gerade also weil von allem ein bisschen darin ist, erweist sich die Lektüre als so unterhaltsam, fließend und leicht. Man nimmt das Buch in die Hand und gibt es nicht mehr her. Der Leser wird in Bewegung gebracht, wird immer tiefer in die Stadt gezogen, wird auf Reisen geschickt – und Reisende soll man bekanntlich nicht aufhalten.

Gleichermaßen unaufhaltsam sind die Gehenden in Ortheils Buch. Nicht nur folgt der Erzähler Goethes Wegen, sondern er begleitet auch Vergils Aeneas, Wilhelm Waiblinger, Stendhal, Jean Paul oder Thomas Mann. Waiblinger z.B. brach 1826 von Reutlingen nach Rom auf, verfasste Reisebilder, Skizzen, Gedichte und Briefe, die von zahlreichen Rom-Ekstasen erzählen: vom Taumel und von der Überwältigung, nicht durch das Außergewöhnliche, sondern das Alltägliche. Stendhal schuf mit Promenade dans Rome (1829) kein trockenes, belehrendes Reisebuch wie es bis dahin üblich war. Die römische Promenade, die er zum Ausgangspunkt nahm, entsprach weder einem gewöhnlichen Spaziergang, einem „passeggiata“, noch dem Flanieren wie es in der Moderne von Walter Benjamin, Franz Hessel oder Joseph Roth beschrieben wurde. Der Promeneur, auf den sich auch Ortheil beruft, ist nicht allein unterwegs. Er bewegt sich in kleinen Gruppen und auf historischem Gelände. Ist er doch einmal allein unterwegs blickt er nach innen statt nach außen. Er interessiert sich für das Außen nur so weit, insofern es Ausdruck seiner Seele ist. Er unterscheidet sich damit ganz wesentlich von dem flüchtigen, am Außen orientierten Gang des modernen Flaneurs. Der Leser von Ortheils Rom, Eine Ekstase geht sowohl als Promeneur als auch als Flaneur durch Rom. Der Autor schöpft die verschiedenen Modi des Gehens als Sehen und Erleben von innen und außen erzählerisch vollständig aus. Dabei ist die römische Promenade ein zugleich sprunghafter und allumschweifender Erzählmodus. Neben dem reinen Wahrnehmen und Staunen wird die Umgebung abgetastet und ihre Geschichte genau kartographiert. Nichts anderes macht Ortheil, wenn er jene erste Begegnung zwischen Goethe und Tischbein schildert, während er die Enoteca Buccone besucht oder den Gang des Aeneas als Vorläufer aller Rom-Ekstatiker ermittelt. Der Rom-Ekstatiker entdeckt also nicht nur flüchtig ein Restaurant oder ein Denkmal, sondern die Geschichten all jener vielen unterschiedlichen Varianten von Restaurants, Straßen und Denkmäler, die Rom charakterisieren. Vermittelt werden nicht nur Rezepte, sondern eine ganze Esskultur. In Trastevere etwa wird die besonders dünne Pizza rasch verzehrt, um möglichst schnell in das Leben der Gassen, von dem ein Sonett von Giacchino Belli erzählt, zurückzukehren.

Im Rausch der Sinne: Rom-Ekstasen, 
Bild: Friederike Römhild

Die geschilderten Promenaden führen kreuz und quer durch die Vergangenheit und Gegenwart. Zeit spielt in dieser Stadt, an der die Moderne vorbeigegangen zu sein scheint, nur eine geringfügige Rolle, weshalb der Autor mühelos zwischen der Antike, der Kaiserzeit, der Klassik und Romantik sowie Gegenwart hin und her springt. Und so bleibt die römische Küche der Kaiserzeit stilbildend für die römische Küche der Gegenwart. Rom lässt sich in keine zeitgemäßen und räumlich fixen Koordinaten pressen. Dies zeigen anschaulich die Spaziergänge zu verschiedenen Aussichtsplattformen: Rom ist sowohl ein Miniaturbild bei der Abendpromenade auf dem Pincio als auch ein Panoramabild bei der Morgenpromenade auf dem Gianicolo oder ein flackernder, brüchiger 60er-Jahre-Film aus der Sicht vom Monumentale Nazionale a Vittorio Emanuelle II auf der Piazza Venezia. Sowie die Jahrhunderte werden auch ganz verschiedene Orte durchstreift: Plätze wie die Piazza Navona oder der Campo di Fiori, Märkte wie z.B. in der Via Lamarmora, Markthallen in alten Schlachthöfen, Gebäude wie das Pantheon, Museen wie das Museo die Roma, Kirchen wie die Kirche Santa Maria oder der Petersdom, Enotheken, Bars, Osterien, Pizzerien sowie Buchhandlungen und Antiquariate wie die Libreria di Cave. Aufgespürt werden dabei die Spannungen zwischen Innen- und Außenraum. So spazieren wir nicht einfach in das Pantheon hinein und werfen als erstes den Blick in die Kuppel, den jeder übliche Tourist als erstes mit seiner Fotokamera ansteuert. Nein, das Pantheon, das wir mit Ortheil erleben, lässt uns den Kontrast erleben, den die Banalität und Unauffälligkeit der Außenfassade des Pantheons erzeugt, misst man sie an der Mächtigkeit und Größe ihres Innenraums. Ortheils Leser nähern sich dem Pantheon von außen und machen zuerst die nicht erwartete Erfahrung des Unscheinbaren und Alltäglichen. Ebenso neuartig ist für die Leser die Beobachtung des architektonischen Kontrasts zwischen einem Palazzo und einer Villa. Während die Villa einen offenen, heiteren, geselligen und Nähe erzeugenden Raum darstellt, kennzeichnet einen Palazzo seine Verschlossenheit, seine ernste Distanziertheit zum Zwecke der Repräsentation. Die römische Ekstase entsteht durch jeden kleinsten Winkel dieser Stadt, jeden Zeitpartikel, jedes Detail, jede atmosphärische Beobachtung, jeden einzelnen Schritt, den wir durch diese Stadt machen.

Wie der Flaneur F. in Ortheils Buch ist auch S. – der Stipendiat – eine erfundene Figur, die durch die Reduktion des Namens auf den Anfangsbuchstaben neutralisiert wird, aber dennoch in Korrespondenz zum Autor zu vermuten ist. Der Promeneur Ortheil war selbst Stipendiat in der Villa Massimo (seine dortigen Erlebnisse und Erfahrungen hat er in seinem neuesten Buch Rom, Villa Massimo. Roman einer Institution (2015) niedergeschrieben). Zunächst erscheint dieser Stipendiat von jenem Flaneur und Promeneur unterschieden, da er ein absolut Fremder, ein Orientierungsloser, ein noch viel stärker Suchender ist. Wiederum dem Flaneur F. ganz ähnlich greift aber auch S. zum MP3-Player und macht aus Rom einen musikalischen Klangraum. Und da beide dieselbe Musik hören von Respighi bis Gianmaria Testa verschmelzen diese beiden Typen plötzlich doch miteinander und werden zu einer unterschiedlichen Bewegungsform ein und derselben Person durch Rom. So schließt dieses Buch mit einem Stipendiaten und seiner morgendlichen Lichterfahrung den Kreis zum ersten Kapitel, das mit dem jungen Studenten der sechziger Jahre begann, den das Licht Roms in den frühen Morgenstunden besonders geprägt hat. Es schließt sich damit auch der Kreis zwischen dem jungen Studenten und dem reifen Stipendiaten. Zur Rom-Ekstase gehört folglich ebenso wie die Sinnlichkeit des römischen Alltags die Reise zu sich selbst, die Begegnung des Ich mit der eigenen Jugend – und genau diese Sehnsucht nach Jugendlichkeit, diese erlebte Verjüngung hatte schon Goethe in Rom erfasst und ekstatisch erlebt. Rom-Ekstasen, das ist das Erlebnis prallen Lebens, eines hohen Genusses, des Vergessens der Heimat, der Sorgen und der Rollenmuster, kurz das Erleben eines Alltagsparadieses. Rom – ein Geschenk und ein Experiment für den, der sich auf seine Suche macht. So lebendig dieses Rom also ist, so unbegreiflich wandelbar und unfassbar ist es auch. Erst dieser Wandel des Lebens, diese anachronistische Verschiebung, dieses Changieren von Vergangenheit und Gegenwart, Nah und Fern, dieses immer Neue im Uralten macht es möglich jene Rom-Ekstasen auch als Ekstasen der eigenen Identität zu erleben, von denen dieses Buch auch erzählt. Schluss? Nein. Mit Rom ist niemals Schluss und so gibt es noch ein letztes Kapitel: Abschied von Rom. Goethe geht hierfür zum Kolosseum und ins Kapitol, unternimmt allein eine Prozession, mit der er die Toten beschwört und gnädig stimmt, um seine Rückkehr zu bewirken. Es gibt viele Rituale, sich von Rom zu verabschieden: ein anderer ist, eine Münze in den Trevi-Brunnen zu werfen, wieder ein anderer ist ein Spaziergang über die leeren Plätze der Stadt um Mitternacht. Abschied von Rom gelingt, wenn Rom einen nicht mehr loslässt, wenn der Abschied bereits den Vorsatz der Wiederkehr enthält. Nur so ist der Schmerz der Trennung von dieser geliebten Stadt überhaupt zu ertragen. Gehen, um zurückzukehren. Dieses etwa 175 Seiten starke Buch bietet genügend Material und Gelegenheit für den Leser, um den individuellen Kreislauf von Ankunft in und Abschied von Rom fortzusetzen und römische Ekstasen zu erleben.


Hanns-Josef Ortheil: Rom, Eine Ekstase, Berlin: Insel Verlag 2011. 

Zeitschriften zur italienischen Kultur – eine Auswahl

Lektüretipp im "lessico famigliare"

Es gibt eine Reihe von Zeitschriften, die über Literatur, Film und Kunst und Kultur Italiens berichten. Hier eine kleine Auswahl der wichtigsten Zeitschriften:

Italienisch, Zeitschrift für italienische Sprache und Literatur
herausgegeben von Marc Föcking, Thomas Krefeld, Salvatore A. Sannas und Rainer Stillers, gefördert von der Frankfurter Stiftung für deutsch-italienische Studien und der Deutsch-Italienischen Vereinigung e. V. in Frankfurt am Main, sie ist Organ des Deutschen Italienverbandes e. V., zwei Ausgaben im Jahr, Tübingen, Gunter Narr Verlag, seit 2013, erste Ausgabe 1977.
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Zibaldone, Zeitschrift für italienische Kultur der Gegenwart
herausgegeben von Thomas Bremer und Titus Heydenreich, zwei Ausgaben im Jahr, Tübingen, Stauffenberg Verlag, seit 1986.
Romanistisches Jahrbuch
herausgegeben von Daniel Jacob, Andreas Kablitz, Bernhard König, Margot Kruse, Joachim Küpper, Christian Schmitt, Wolf-Dieter Stempel, Romanistisches Seminar der Universität Köln, Berlin, de Gruyter, seit 1949.
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Italianistica, Rivista di letteratura italiana
gegründet von Renzo Negri und Felice Del Beccaro, Pisa, Roma, Fabrizio Serra edizione, vier Ausgaben im Jahr, seit 1972.
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Onde, Die Deutsch-Italienische Studenteninitiative
ein deutsch-italienisches Kulturmagazin, das ursprünglich auf die Diplomarbeit von Gerrit Meyer-Arndt aus dem Jahr 1993 zurückgeht, aus der heraus sich eine Studeteninitiative entwickelte, die neue und alternative Perspektiven auf Italien werfen will, zwei Ausgaben im Jahr, Universität Passau.
Adesso 
Zeitschrift zum Italienisch lernen, auf Italienisch und Deutsch, mit Vokabelhilfen, zu Land, Kultur, Kulinarik, Tourismus, zwölf Ausgaben im Jahr, München, Spotlight Verlag, seit 1994.
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Italien Magazin
Die in den Niederlanden herausgegebene Zeitschrift berichtet zu den Themen Reisen, Essen & Trinken, Leben & Kultur und aktuelle Trends aus Italien. Es erscheinen vier Ausgaben im Jahr.

 

„Italienisch für Anfänger“ (2000) von Lone Scherfig

Lone Scherfig im Filmtipp

Die dänische Regisseurin Lone Scherfig (1959 geboren) debütierte bereits 1990 mit „Die Geburtstagsreise“ und drehte in den Folgejahren u.a. auch in englischer Sprache (z.B. 2002 „Willbur wants to kill himself“). Mit ihren Filmen hat sie sich in die Dogma-Bewegung eingeschrieben, die sich in die Tradition der Nouvelle Vague der sechziger Jahre stellte und sich von kommerziellen Interessen und perfektionierten Produktionsprozessen abgrenzte, um sich künstlerisch befreien zu können. Begründer der Dogma-Bewegung waren u.a. die Regisseure Lars von Trier („Die Idioten“) und Thomas Vinterberg („Das Fest“). 2001 erhielt Lone Scherfig für ihren Film Italienische für Anfänger den Silbernen Bär auf der Berlinale. Scherfigs Film aus dem Jahre 2000 historisiert jedoch bereits die Dogma-Bewegung, indem zugleich zu Beginn des Films das eingerahmte Zertifikat „Dogma No. 5“ zu sehen ist. Mit diesem nur kleinen Hinweise wird klargestellt: Plausibilität und Authentizität, Originalschau-plätze, die ausschließliche Verwendung von Handkameras, Verzicht auf technische Effekte wie Filter oder künstliche Beleuchtung u.v.m. wie sie von der Dogma-Bewegung zum Maßstab ihrer Filme erhoben wurden, werden durch diese filmische Autoreferentialität bereits, wenn nicht ausgehebelt, so zumindest aufgelockert. So scheint dieser Film eine Befreiung von der Befreiung zu sein, der sich nur wenige Jahre später auch die Begründer der Dogma-95-Bewegung anschließen als sie beschließen, ihre Ideen teilweise fallen zu lassen. 

Befreiung ist jedoch nicht nur ein wichtiges formales Stichwort, sondern treibt auch die Figuren des Films an, die sich zufällig begegnen und dennoch verbunden zu sein scheinen durch die Sehnsucht nach Italien. Die Figuren verbindet aber auch noch etwas anderes und das ist so offensichtlich, dass es zuweilen etwas zu konstruiert wirkt oder anders gesagt, nicht so authentisch wie es eigentlich sein möchte: alle Figuren sind gefangen von ihren privaten Sorgen und Pflichten, ihren emotionalen Verzichten und unbefriedigten Bedürfnissen. An allen Ecken fehlt es an Liebe und Wärme, die diese Menschen im Sprachkurs Italienisch für Anfänger in der Volkshochschule irgendwie suchen, um sich zu befreien und in der Zweckgemeinschaft bald finden. Sei es die Bäckereiverkäuferin Olympia, die sich jeden Abend um ihren Vater kümmert, der sie niedermacht und ihre jedes Selbstbewusstsein nimmt; Sei es die Friseurin Karin, die ihre Kundschaft verliert, weil ihre alkoholkranke Mutter unerwartet und in schlechtester Verfassung in den Laden hereinplatzt; Sei es der sehr unfreundliche, fast jähzornige Kellner Hal-Finn, der impotente Hotelangestellte Jorgen oder der junge Pastor Andreas, der viel zu unsicher für einen Menschen ist, der anderen Halt und Hoffnung schenken sollte. Wenngleich also der Film nicht ganz frei von Klischees ist – eben jener Italiensehnsucht einsamer, in der Kälte des sozialen Umfelds frierender Vorstädter oder der titelgebende Sprachkurs „Italienisch für Anfänger“ oder das „O sole mio“, das am Ende des Films ins Venedig gesungen und gehört wird – so ist die story des Films unterhaltsam. Der Film ist damit sehr wohl eine gute und durchaus authentische Alternative zu manchen Filmeinstellungen einiger Abendfilme des deutschen Fernsehens, in denen Pasta im Landhaus gegessen wird oder begleitet vom aktuellen Sommerhit Motorinifahrten die Küste entlang gezeigt werden, während im niemals unterbrochenen Sonnenschein überall in Italien Deutsch gesprochen wird. Mag Scherfigs Film also auch ein Klischee beschreiben, so ist das Klischee nicht ohne Grund ein Klischee: Ich weiß nicht, wann, wo und warum meine Italiensehnsucht begonnen hat, aber ich weiß, dass auch ich irgendwann entschied, einen Sprachkurs „Italienisch für Anfänger“ in der Volkshochschule zu machen und als ich einen zweiten Sprachkurs in Rom erlebte, stimmte einer meiner Mitschüler „O sole mio“ an, einfach so eben.

Der Film „Italienische für Anfänger“ von Lone Scherfig ist u.a. in der Arthaus Collection (vom Kultur Spiegel herausgegeben) in der Reihe „Skandinavisches Kino“ (Nr. 10) erschienen: Nicht nur macht die Covergestaltung Lust auf den Film, sondern unterhält und informiert auch das innen liegende Beiheft verlässlich über Filminhalt und Regisseurin. Überzeugend! Ein guter Grund auf diesem Blog auch eine dänische Regisseurin zu präsentieren, der sich primär deutschen und italienischen Werken zuwendet.

Johann Wolfgang von Goethe: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen


Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrthe still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl? Dahin! Dahin!
Möcht‘ ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“, heißt es in Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister. Diese Zeile und die mit ihr verbundene Passage sind für viele Italienliebhaber und -kenner zu einem geflügelten Wort geworden, das vielfach zum Ausdruck einer Italiensehnsuch zitiert worden ist. Bei Goethe sind diese Zeilen Teil eines Liedes, das das knabenhafte Mädchen Mignon (französisch für „Herzchen“, „Liebchen“), die der Protagonist Wilhelm sich zur Dienerin macht, singt.

Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung, Berlin: Henschel 1950. S. 180.